«Dann geht Assad, und zwar mit einer Kugel im Kopf» – Interview mit Samar Yazbek – von Guido Kalberer

Article  •  Publié sur Souria Houria le 2 janvier 2016
«Damit die Situation etwas erträglicher wird, müssen die Bombardierungen endlich aufhören», fordert Schriftstellerin Samar Yazbek. Fotos: Albrecht Fuchs, Gokhan Sahin (Getty Images)

«Damit die Situation etwas erträglicher wird, müssen die Bombardierungen endlich aufhören», fordert Schriftstellerin Samar Yazbek. Fotos: Albrecht Fuchs, Gokhan Sahin (Getty Images)

Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek lebt im Pariser Exil. Für ihr Buch reiste sie wiederholt in ihre Heimat. Mit deutlichen Worten nimmt sie Stellung zu diesem tragischen Konflikt.

Vor genau drei Jahren haben Sie Ihr erstes Syrien-Buch «Schrei nach Freiheit» vorgestellt. Wie hat sich die Lage seither verändert?

Im Vergleich zu 2012 ist die Situation eindeutig schlimmer geworden. Die Massaker an der Zivilbevölkerung gehen nach wie vor weiter. Die Syrer leben in einem geteilten und zerstörten Land, das von verschiedenen Staaten ununterbrochen bombardiert wird. Am Boden sind in den letzten drei Jahren unzählige Jihadisten und IS-Kämpfer aus allen möglichen Ländern dazugekommen, welche die syrische Bevölkerung terrorisieren. Die Lage ist also tragisch, und sie wird es bleiben: Die Syrer sterben ­eigentlich nur noch.

Haben Sie heute noch Kontakt und regelmässigen Austausch mit der syrischen Bevölkerung? 
Ich habe nicht nur Kontakt zur Bevölkerung, ich bin ein Teil davon! Jeden Tag nehme ich per Skype Verbindung auf zu meinen Freundinnen und Freunden. Ich habe eine Organisation für das wirtschaftliche und politische Empowerment von Frauen aufgebaut. Über 5000 Frauen arbeiten in den syrischen Flüchtlingslagern für die Organisation; in den angrenzenden Ländern wie der Türkei oder dem Libanon sind Tausende weitere Frauen im Einsatz für das Projekt. Ich bezeichne das als eine Art «Schattenwiderstand». Die Zentren, in denen sich Frauen für andere Frauen und Kinder an der Front engagieren, werden ­jedoch immer wieder zerstört durch die Angriffe von Assad. Den Wieder­aufbau und alle anderen Arbeiten, die dafür nötig sind, organisiere ich von meinem Pariser Exil aus.

Hat die Bevölkerung denn noch Hoffnung auf Besserung der Lage?
Von Hoffnung zu sprechen, ist geradezu Luxus. Die Menschen sind unheimlich schwach geworden. Sie sind am Ende, weil sie wirklich nur um das nackte Überleben kämpfen. Sie müssen die ­Leichen einsammeln und gegen den Tod kämpfen. Trotzdem gibt es immer noch kleine Gruppen und Verbände, die versuchen, die Zivilgesellschaft aufrecht­zuerhalten und so etwas wie einen Alltag zu leben.

Was müsste geschehen, um die Lage erträglicher zu machen?
Damit die Situation etwas erträglicher wird, müssen die Bombardierungen durch Assad, die Russen und zahlreicher anderer Mächte endlich aufhören. Im Moment wird ohne Unterbrechung bombardiert, und das, ohne einen Plan zu haben, was danach vor Ort, also am Boden, aufgebaut oder entwickelt werden könnte. Das sinnlose Bombardieren bringt keine Lösung, sondern fördert und verbreitet bloss den Radikalismus. Den Preis zahlt die Zivilbevölkerung, die  am meisten Opfer zu beklagen hat.

Wie sehen Sie denn die Zukunft Ihres Landes?
Ich bin nicht optimistisch, und ich habe auch nur wenig Hoffnung auf eine baldige Lösung des Konflikts. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass es kein Bestreben gibt, eine internationale Lösung für Syrien zu finden. Man will einfach nur Waffen verkaufen! Die Massaker, die Assad gegenüber Zivilisten begangen hat, sind weitaus bestialischer als das, was der IS bisher gemacht hat. Trotzdem werden seine Verbrechen im ­Westen kaum oder weniger zur Kenntnis ­genommen – ganz im Unterschied zu den Exekutionen des ­Islamischen Staates.

Warum ist das so? 
Der Westen interessiert sich mehr für den Islamischen Staat als für Assad, weil der IS auch für Europa eine Gefahr darstellt. Das Blutvergiessen in Syrien beschäftigt nicht besonders, solange es in Syrien bleibt. Der IS hingegen trägt es aus dem Land hinaus in die ganze Welt. Darum haben die Europäer Angst um ihre Sicherheit. Bestimmte westliche Politiker blasen das Bild des IS bewusst auf, um die islamische Welt als Ganzes als Bestie hinzustellen. Dabei geht beinahe vergessen, dass Assad sein eigenes Volk hinrichtet und dabei von der Welt nicht gestoppt wird. Während wir hier reden, bombardiert er Syrien. Die Gewalt ist dort mittlerweile etwas Normales geworden. Das spürte ich, als ich zwischen August 2012 und August 2013 für die Recherchen zu meinem Buch «Die gestohlene Revolution» durchs Land reiste und über 150 Interviews führte.

Sie trafen da auf eine sehr ­unübersichtliche Lage.
Allerdings. Einerseits kämpfen die Jihadisten gegen die Freie Syrische Armee (FSA), anderseits sind viele FSA-Kämpfer zum Islamischen Staat übergelaufen, in der naiven Hoffnung, so effektiver gegen Bashar al-Assad, der ihre Familien umgebracht hat, vorgehen zu können. Dazu kommt nun Russland, das Stellungen der Freien Syrischen Armee aus der Luft angreift. Erst kürzlich wurden fünf führende Köpfe der Rebellen getötet. Aber auch Bombardements der anderen Grossmächte lösen das Problem nicht. Es ist eine Material- und Waffenschlacht, die Hunderttausende das Leben kostet – und einige bereichert. Die Grossmächte müssten sich für ein Ende des Krieges entscheiden.

Warum tun sie das nicht?
Weil die USA, Russland, der Iran und ­Europa unterschiedliche Interessen in Syrien verfolgen. Wenn die Grossmächte den Krieg beenden wollten, könnten sie es längst tun. Solange sie sich aber dagegenstemmen, wird auch eine Konferenz der oppositionellen Gruppen, wie sie vor kurzem in Riad stattfand, keinen Frieden bringen.

Will denn überhaupt jemand von den Kriegsparteien Syrien als Staat erhalten? 
Ja doch, die Syrer selbst! Aber sie haben keine Entscheidungsgewalt mehr, denn als einheitlichen Staat gibt es Syrien nicht mehr. Das Regime von Assad ist nur eine Fassade für die Russen und den Iran; wenn die entscheiden, dass sie den Diktator nicht mehr haben wollen, dann geht er, und zwar mit einer Kugel im Kopf. Wenn die sich aber dafür entscheiden, dass er bleiben soll, dann wird es nichts in der Welt geben, das ihn von der Macht verdrängt. Russland hat Militärbasen und Flugzeuge an der syrischen Küste, und Iran ist durch die Hizbollah in Damaskus präsent. Und der IS hat mit Kämpfern von überall her einen grossen Teil Syriens besetzt. In Syrien sind also antagonistische Kräfte aus der ganzen Welt aktiv.

Liegen Politiker falsch, die sagen, dass ohne Assad keine Lösung zu erreichen ist? 
Bashar al-Assad kann und darf nach all seinen Verbrechen am eigenen Volk nicht bleiben. Er muss während einer Übergangsphase hin zu einem demokratischen Rechtsstaat zurücktreten. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass ein solcher Kriegsverbrecher bleibt.

Gibt es überhaupt noch Gebiete in Syrien, die relativ sicher sind?
Ja, ein Viertel des syrischen Gebiets ist halbwegs sicher: die Küstenstädte ­Latakia und Tartus, aber auch Damaskus und Hama. Dort herrscht zwar ebenfalls kein leichtes Leben, und es gibt viele Probleme, aber es ist nicht so todes­­bedrohlich wie anderswo in Syrien.

Daher bleibt den meisten nichts anders übrig, als die Flucht zu ergreifen.
Die Menschen fliehen vor dem sicheren Tod nach Europa, um dort in Würde leben zu können. Ihr Leben in Syrien ist bedroht, und sie müssen widerwillig alles in ihrer Heimat zurücklassen. Es ist doch pervers: Während das Land ausblutet, strömen fremde Kämpfer nach Syrien.

Wieso konnte man das denn nicht verhindern?
Seit 2013, dem Geburtsjahr des IS in Syrien, sind die Grenzen zur Türkei weitgehend offen, und es drängen nicht nur Menschenmassen ins Land, sondern auch Unmengen von Waffen. Zudem hat die Einmischung des Irans und der ­Hizbollah auf Seiten Assads aus dem ursprünglich politischen Konflikt – eine nationale, demokratische und friedliche Bewegung der Bevölkerung gegen ihren Diktator – einen religiösen gemacht. Es handelt sich also nicht um einen Kampf zwischen dem Islamischen Staat und Assad. Der IS in Syrien entstand erst zwei Jahre nach dem Ausbruch der Revolution – als Reaktion auf die Gewalt, die das Assad-Regime ausgeübt hat, und auf das Schweigen der Welt gegenüber den Ereignissen in Syrien. Der IS ist also keineswegs ein Teil der syrischen Kultur und Gesellschaft.

Was ist aus der demokratischen Opposition geworden? Der IS bekämpft sie ja auch. 
Der Islamische Staat beherrscht im Moment die Hälfte des syrischen Territoriums und einen grossen Teil der von der Freien Syrischen Armee befreiten Gebiete. Die FSA selbst wurde durch die chaotische Situation in Syrien zusehends geschwächt. Die Assad-Oppositionellen waren keine Islamisten, sondern Demokraten, Aktivisten und Kämpfer der Freien Syrischen Armee. Letztere wurden von den Jihadisten bekämpft, was zu einer Radikalisierung der Gewalt geführt hat. Der Islamische Staat, aber auch die Instrumentalisierung der Religion in einem politischen Kampf sind Folgen davon, dass man Syrien sich selbst überlassen hat, Folgen davon, dass die Welt es zuliess, dass ein bru­taler Diktator sein Volk auf bestialische Weise abschlachtete. Zu dem hasserfüllten despotischen Assad-Nihilismus kam der religiöse Selbstmord-Nihilismus des Islamischen Staats hinzu, der im Tod eine Erweckung des Lebens sieht. Aber der erste Nihilismus – und das ist wichtig, festzuhalten – war die Mutter des zweiten.

Sie sprechen von Nihilismus. Ist der Konflikt in Syrien nicht auch religiös geprägt?
Unter dem Deckmantel der Religion hat sich der nationale politische Konflikt in einen internationalen Konflikt verwandelt. Ich kann nun aber nicht sagen, dass es gar keinen Streit unter den Religionsgemeinschaften gibt. Dieser ist unleugbar da, aber weder ist der Religions­konflikt die Ursache noch das Kernproblem dessen, was in Syrien geschieht.

Sie leben im Exil in Paris. Was ging Ihnen durch den Kopf, als die Stadt am 13. November vom Terror heimgesucht wurde?
Als gebürtige Syrerin habe ich gedacht, das ist nun ein Teil des Teufelskreises der Gewalt, den wir Syrer seit fast fünf Jahren erleben. Das, was dort geschieht, kennt keine Grenzen, und ich fürchte, dass der Krieg gegen den Terror ihn wohl eher verbreiten als eindämmen wird. Die Anschläge in Paris waren ein Signal des IS: Wir kriegen euch, nämlich den Rest der Welt, wo immer ihr auch seid.

Nun sind Sie ja Schriftstellerin und nicht primär Anwältin in Sachen syrischer Bürgerkrieg. 
Ja, das stimmt natürlich. Aber ich hatte das Bedürfnis, das niederzuschreiben, was in meinem Heimatland geschieht. Denn ich habe festgestellt, dass es einen Mangel an Informationen gibt über die Menschen und deren Leben dort. Darum habe ich die beiden Sachbücher «Schrei nach Freiheit» und «Die gestohlene Revolution» verfasst. In den letzten vier bis fünf Jahren habe ich keine literarischen Bücher mehr geschrieben. Nun aber will ich wieder zur Literatur zurückkehren. Sie ist ein Teil meines Körpers.

Und das, obwohl keine Lösung für Syrien in Sicht ist.
Ja, trotzdem! Wir müssen stark sein und auch zu uns selbst und unserem Leben stehen. Ich bin Schriftstellerin. Wenn ich mich die ganze Zeit an der syrischen Frage abarbeite und mich nicht wieder auf die Literatur konzentriere, dann bin ich nicht mehr ich selber – und das möchte ich jetzt wieder sein! Das heisst allerdings nicht, dass ich eines Tages vielleicht nicht doch noch einmal ein ähnliches Tagebuch oder Sachbuch schreiben werde.