Der Westen hätte diesen Krieg stoppen können – Ein Kommentar von Wolfgang Bauer

Article  •  Publié sur Souria Houria le 3 octobre 2015

Hunderttausende Syrer fliehen vor allem vor den Bomben des Assad-Regimes. Vor Jahren hätte eine Flugverbotszone ihr Land retten können. Dieses Versagen rächt sich heute.

Diese blutjungen Gesichter. Es sind die Gesichter von Jungs, 16 Jahre alt, manchmal nur 15, milchglatt, auf denen noch kein Barthaar wächst. Ich sehe sie in den Videos aus dem Bürgerkrieg in Syrien. Sie tragen Uniformen, halten Gewehre, verteidigen verbissen, stürmen voran oder liegen mit zerfetzten Gliedern tot im Staub. Bartlose Jungs auf beiden Seiten der Front. Der Krieg, der in seinem fünften Jahr steht, bekommt ein immer jüngeres Gesicht. Die Verlustraten auf beiden Seiten sind so enorm, dass immer mehr Kinder und Jugendliche die Lücken schließen müssen. « Weißbluten » nannte man diesen Aderlass im Ersten Weltkrieg.

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Nach einem Fassbomben-Angriff im nordsyrischen Aleppo © Karam al-Masri/AFP/Getty Images

In diesen Tagen, in denen Hunderttausende Syrer zu uns nach Deutschland und Österreich kommen, hören wir nur noch wenige Nachrichten aus Syrien selbst. Das hat viele Gründe. Die Medien waren in den vergangenen Monaten vor allem mit der Eurokrise und Griechenland beschäftigt. Da blieb wenig Raum für andere Themen. Zudem können wir Journalisten nicht mehr ins Land. Die Entführungsgefahr auf Rebellenseite ist zu groß, und das Assad-Regime vergibt nur wenige Pressevisa. Jordanien hält die Grenze für ausländische Reporter schon immer geschlossen, weil das dortige Militär sich bei der Unterstützung der syrischen Opposition keine Beobachter wünscht. Vor wenigen Monaten hat nun auch die Türkei ihre Grenze für Reporter dichtgemacht. Vermutlich aus ähnlichen Motiven. Die einzige Kriegspartei, die Reporter freundlich aufnimmt, sind Kurden und Jesiden. Einer der Gründe, warum so viel in deutschen Medien über die Kurden in Syrien berichtet wird. Aber der Krieg der Kurden – ohne ihr Leid schmälern zu wollen – ist im Gesamtbild ein Nebenkriegsschauplatz. Nie zuvor in den vergangenen Jahrzehnten hatten die Medien zu einem Konflikt dieser Bedeutung so wenig Zugang.

So müssen wir uns bescheiden mit den Beobachtungen Dritter. Und so erreicht uns das Leid der Syrer erst am Münchner Hauptbahnhof.

Dieser Krieg sprengt alle Grenzen auf

Hunderttausende sind über das Meer und die Balkonroute zu uns gekommen. Der Innenminister Thomas de Maizière, der immer noch im Amt ist, obwohl Tausende aufgrund seiner Fehlentscheidungen im Mittelmeer ertrunken sind, lässt nun die Grenzen schließen. Deutschland sei überfordert, sagt er. Es könnten nicht alle kommen. Man müsse stattdessen die Fluchtursachen bekämpfen. Gleichzeitig geben die UN bekannt, dass eine Million Syrer zusätzlich ihr Land verlassen werden, wenn nicht bis Jahresende das Morden dort beendet sei. Der Krieg dort hat eine zu große Sprengkraft, als dass sich Europa und Deutschland dagegen abschotten könnten. Dieser Krieg sprengt alle Grenzen auf.

Das Ausbluten Syriens hat viele Ursachen, die nicht in Europa oder den USA liegen. Aber: Europa und die USA hätten dieses Ausbluten stoppen können. Sie hätten es stoppen können, als das Regime Assad die ersten Helikopter einsetzte, um wahllos in die Städte und Dörfer zu schießen. Sie hätten es stoppen können, als Assad begann, seine Kampfjets gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen. Der Westen hätte das Ausbluten stoppen können, als das Regime Scud-Raketen einsetzte, Giftgas und die Fassbomben. Wenn jetzt der deutsche Innenminister davon spricht, die Grenzen dichtmachen und die Fluchtursachen bekämpfen zu wollen – weiß er, wovon er redet?

In Deutschland gibt es viele Vorurteile gegenüber Flüchtlingen. Unsere Kartengeschichte klärt, welche Annahmen stimmen und welche nicht:

Er redet von etwas, das die Bundesregierung unter Merkel seit Jahren strikt ablehnt. Der einzigen Möglichkeit, Syrer in Syrien zu halten und die Stadtverwaltung München von ihrer Überbeanspruchung durch Kriegsfolgen zu entlasten: dem Aufbau einer Flugverbotszone.

Wovor fliehen die Menschen nach Europa? Die wenigsten fliehen vor den Kämpfen. Die so unüberschaubar sind. Die meisten fliehen vor den Luftangriffen. Deren Ursache ist sehr überschaubar: Die meisten fliehen vor den Bomberflotten des Regimes Assad.

Die Menschen in der Hälfte Syriens, die nicht mehr von Assad kontrolliert wird, haben es schon immer gefordert. Aber der Westen wusste es besser. Der Westen, die Außenminister Westerwelle und Steinmeier, sie alle sagten: Eine Flugverbotszone macht es nur schlimmer. Wir können die Kampfjets Assads nicht vom Himmel holen, weil sonst der Konflikt ein Flächenbrand wird. Damit unterlagen sie einem der schlimmsten Irrtümer deutscher Außenpolitik.

Der syrische Bürgerkrieg wurde zum Flächenbrand – weil der Westen keine Flugverbotszone erließ. Die Bomben Assads zertrümmerten die Ordnung des Nahen Ostens. Sie zertrümmerten die Strukturen in den Dörfern und Städten seines Landes. Sie ließen die fliehen, die dort bisher den Alltag organisiert, das Denken geprägt hätten: die Ältesten, die Gebildeten, die traditionellen Führer der Dörfer. Alle gingen, die es sich leisten konnten. Nur die blieben, die zu arm waren, zu fliehen, die dankbar waren über jede Unterstützung, egal von welcher Seite. Die sogar den Teufel umarmten, wenn der ihnen denn Schutz bot.

So waren die Bomben Assads die Geburtshelfer des « Islamischen Staats« . Bombe um Bombe, Leiche um Leiche, Angst um Angst nährte die Luftwaffe Assads die Radikalen. Mit jeder Bombe schlossen sich mehr Syrer wahnwitzigen Ideologien an, denen der Tod näher ist als das Leben.

Eine Flugverbotszone – wäre sie vor drei Jahren erlassen worden – hätte Syrien vom IS-Wahnsinn in seiner jetzigen Mächtigkeit verschont. Sie hätte Hunderttausenden Männern, Frauen und Kindern das Leben gerettet. Sie hätte einzigartige Kulturen bewahrt. Sie hätte Europa die größte Flüchtlingswanderung seit dem Zweiten Weltkrieg erspart. Jeder Dorfbürgermeister in Deutschland hat in diesen Tagen die Folgen der gescheiterten Außenpolitik der Regierung Merkel zu bewältigen.

So fatal die Entscheidung der USA 2003 gewesen war, den Irak des Saddam Hussein anzugreifen, so fatal war die Entscheidung Deutschlands und des Westens, in Syrien mit einer Flugverbotszone nicht einzugreifen. Doch all die, die so tragisch irrten, sind noch im Amt. All die, deren Strategien ins größte Desaster seit dem Zweiten Weltkrieg führten, bauen weiter an Strategien für den Nahen Osten.

Politische Lösung ist Hunderttausende Tote entfernt

Natürlich meint Thomas de Maizière seine Worte von der Bekämpfung der Fluchtursachen nicht ernst. Er denkt nicht an militärische Schritte. Sicher schwebt ihm eine politische Lösung vor. Doch niemand im Kriegsland Syrien will eine politische Lösung. Es gibt dort keine politische Lösung. Von einer politischen Lösung ist Syrien noch viele Hunderttausend Tote entfernt.

Anders als der Westen hat der russische Präsident Wladimir Putin das klar erkannt. Er interveniert jetzt, nicht mehr verdeckt, sondern relativ offen, um das ins Wanken geratene Assad-Regime zu stützen. Er fliegt nun – wie es heißt – Tausende Soldaten in das Bürgerkriegsland. Er lässt Flughäfen bauen und Assad mit neuer Zerstörungstechnik ausstatten. Denn Assad war in den vergangenen Monaten in Schwierigkeiten gekommen. Eine Allianz aus Türkei, Saudi-Arabien und Katar hatte neue panzerbrechende Waffen an die gemäßigten Rebellen im Westen des Landes geliefert. So erschöpft sind mittlerweile beide Seiten, dass nur ein einziges neues Waffensystem die Landkarte verändern kann. Binnen Wochen rollten die Rebellen eine Front auf, die seit Jahren gefroren war. Sie eroberten mehrere Städte, trieben Assad-Soldaten vor sich her. Assad verlor – wie es heißt, wie es aber auch Videos dokumentieren – Hunderte Panzer und schweres Gerät. Er versuchte durch den Einsatz seiner Elitetruppen die Initiative zurückzugewinnen – und scheiterte.

In der alawitischen Bevölkerung, dem Rückgrat des Regimes, brodelt es. Es gibt einzelne Demonstrationen. Sehr viele Niederlagen wird sich Assad nicht mehr leisten können. Immer mehr Alawiten zweifeln seine Fähigkeiten an, sie, die alawitische Bevölkerung, aus der Falle zu führen. Deshalb interveniert jetzt Putin. Seine russischen Einsatzkräfte werden vermutlich an der Front nicht viel bewirken wollen, aber sie beflügeln den Widerstandsgeist der syrischen Armee. Der Krieg wird so noch einige Zeit weitergehen.

Die Menschen werden weiter fliehen. Und die Flüchtlingsheime in Deutschland werden überfüllt sein und manchmal brennen. Und die deutschen Außenpolitiker werden den Ausgebombten wohltätigst Zelte in die Lager in den Libanon schicken und ihre Hände in Unschuld waschen: Assads Bomber werden weiter morden. Über hundert Fassbomben explodierten im September allein in Aleppo.

source : http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/syrien-assad-regime-versagen-bundesregierung-aufbau-flugverbotszone/seite-2

date : 16/09/2015