Mit Zigaretten und bunter Kleidung gegen ISIS – von Haid Haid

Article  •  Publié sur Souria Houria le 19 juillet 2016

BürgerjournalistInnen, die unter Einsatz ihres Lebens über die Tyrannei des „Islamischen Staates“ berichten und KämpferInnen, die Städte von ihrer Herrschaft befreien: Sie sind es, die große Aufmerksamkeit in den Medien erfahren. Doch auch die breite Masse der einfachen SyrerInnen hat ihre ganz eigenen Akte der Auflehnung entwickelt, um den Kampf gegen die Terrorgruppe ISIS auch dann noch symbolisch fortzuführen, wenn sie von ihren tyrannischen Regeln befreit wurden. ISIS erleidet nicht nur militärische Rückschläge, sondern auch kulturelle, schreibt der Autor Haid Haid.

Das Bild der 19 Jahre alten Souad Hamidi, die sich den Niqab – den weiten schwarzen Gesichtsschleier – vom Kopf reißt, erregte im Juni viel Aufsehen in den sozialen Medien. Hamidis Foto, das nach der Befreiung ihres Dorfes von der ISIS-Herrschaft geschossen wurde, erfuhr rasch lokale und internationale Aufmerksamkeit als Akt der Auflehnung gegen die extremistische Organisation, die den Frauen den Niqab nach der Eroberung ihres Dorfes im Jahr 2014 aufgezwungen hatte.

Andere Frauen und Männer in Nordsyrien wurden kürzlich dabei gefilmt, wie sie ihre neugewonnene Freiheit von der unterdrückerischen ISIS-Regentschaft feierten, indem sie rauchten, farbenfrohe Kleidung anzogen und sich zum Spielen trafen.

Viel wurde geschrieben über den militärischen Druck, der mittlerweile auf dem IS lastet, über den Verlust großer Gebiete. Die kulturelle Ablehnung durch die unterdrückte Bevölkerung wurde nur am Rande thematisiert, obgleich sie mindestens ein ebenso bedeutendes Element, wenn nicht gar der entscheidende Faktor im Kampf gegen den Islamischen Staat ist.

Ein Mädchen aus Nordsyrien freut sich nach der Befreiung von der ISIS-Herrschaft endlich den Niqab ablegen zu können

Ein Mädchen aus Nordsyrien freut sich nach der Befreiung von der ISIS-Herrschaft endlich den Niqab ablegen zu können

ISIS hat strenge islamische Regeln für ZivilistInnen eingeführt, seit die Gruppe 2014 große Territorien Syriens und des Iraks erobert hat – vor allem für Frauen. „Al-Hisbah“, was zu Deutsch so viel wie „Rechenschaft“ bedeutet, bezeichnet ihre Religionspolizei, die damit beauftragt ist, die tyrannischen Regeln der Organisation in der Bevölkerung durchzusetzen

Gefürchtete ReligionspolizeiAl-Hisbah-Patrouillen durchstreifen die kontrollierten Städte, um sicherzustellen, dass sich die Menschen an die vom IS aufgestellten Regeln halten. Jene, denen eine Verletzung der Gesetzte vorgeworfen wird, sind Demütigungen oder Schlägen ausgesetzt, werden mit einem Bußgeld belegt, eingesperrt oder gar getötet. Viele Frauen und Männer wiesen den strikten Vorschriftenkatalog anfänglich zurück, kamen ihm später jedoch nach, um Bestrafungen zu entgehen. „Sie haben Frauen allen Alters den Niqab aufgezwungen, obwohl die Mehrheit der Frauen in Raqqa lediglich Kopftuch trägt. Ihre harten Restriktionen führen zu Unmut in der Bevölkerung, sind die meisten doch moderate Muslime. Aber viele haben gelernt, damit zu leben, um den Strafen zu entgehen“, sagt Raed Issa, ein Aktivist, der 2015 aus Raqqa geflohen ist und nun in der Türkei lebt.

Die Niederlagen des IS feierten die Frauen in syrischen Städten, indem sie den Niqab wegwarfen – ein Symbol, das mit der Unterdrückung durch die Gruppe assoziiert wird. Stattdessen begannen sie wieder, bunte Farben zu tragen. Den Regeln der Gruppe gemäß dürfen Frauen nur den schwarzen Niqab tragen und müssen ihre Körper von Kopf bis Fuß bedeckt halten.

Herumliegende Niqabs, zurückgelassen von Frauen, denen die Flucht aus IS-Gebiet gelungen ist. Quelle: Screenshot ANHA News

Herumliegende Niqabs, zurückgelassen von Frauen, denen die Flucht aus IS-Gebiet gelungen ist. Quelle: Screenshot ANHA News

Das Nichtbefolgen dieser Regel kann mit Geldstrafen, Züchtigung und Gefängnis sanktioniert werden. Ein kürzlich nahe des nordsyrischen Manbij aufgenommenes Video zeigt zahlreiche abgelegte Niqabs am Boden – hinter sich gelassen von Frauen, denen die Flucht aus IS-Gebiet gelungen ist. Die Aufnahmen rufen die ikonischen Bilder der Haufen von Rettungswesten ins Gedächtnis, die von Flüchtlingen nach dem Erreichen Europas über den Seeweg zurückgelassen wurden. „Ich danke euch so sehr, dass ihr uns befreit habt und mir erlaubt, Rot zu tragen. Ich werde von nun an immer Rot zu tragen“, sagte Khadija Abdu al-Muotee nach der der Befreiung ihres Dorfes nahe Manbij. Im selben Film ruft eine andere Frau aus: „Seht nur, was wir tragen. Wir haben das Schwarz abgenommen!“

Unter ISIS sind die Frauen dazu gezwungen, nur in Begleitung eines männlichen Vormunds, „mahram“ genannt, in die Öffentlichkeit zu gehen. Beide können bestraft werden, wenn nicht alle Vorschriften befolgt werden. „Ich kann das Haus wieder allein verlassen und mich frei bewegen.“ sagt Hanaa Hasan, eine syrische Lehrerin, die in al-Dana im ländlichen Idlib lebt. „ Ich hatte keinen mahram, habe ich doch mit meiner Mutter und meinen Schwestern gelebt. Es war immer ein Risiko, das Haus zu verlassen. Nun weiß ich, wie kostbar meine Freiheit ist. Deshalb verlasse ich das Haus jeden Tag, seit daesh (das arabische Akronym für ISIS) im Februar 2015 aus meiner Stadt vertrieben wurde.”

Und auch Männer brachen in Jubel über ihre neugewonnene Freiheit aus und stellen ihre Missachtung der IS-Regeln zur Schau, indem sie Karten- und Brettspiele spielen, Jeans und schicke Haarschnitte tragen. Zuvor war es ihnen verboten worden, sich eine „moderne“ Frisur schneiden zu lassen. Auch Haargel oder engere Jeans waren tabu. Es ist nicht schwierig zu erkennen, dass Männer nach der Befreiung ihren Stil komplett verändert haben. „Ich hätte beinahe meinen Laden geschlossen, als ISIS hier aktiv gewesen ist. Die Leute hatten Angst sich die Haare oder den Bart schneiden zu lassen. Nachdem ISIS vertrieben wurde, war mein Geschäft mindestens einen Monat lang für 12 Stunden am Tag brechend voll. Ich komme gar nicht mehr hinterher mit all den Namen von neuen Frisuren, die die Leute wollen“, sagte Mustafa Ibrahim, ein Friseur in Atareb, westlich von Aleppo.

Rauchen gegen ISISAuch während meiner Besuche in jenen ländlichen Regionen Aleppos und Idlibs, die 2015 befreit wurden, nahm ich die Veränderungen in der Öffentlichkeit wahr: Die Menschen spielten wieder Karten und Backgammon in den Straßen, was zuvor ebenfalls verboten war.

Und auch das Rauchen ist für die Leute ein Akt des Widerstandes geworden. Während eines Besuchs in meiner Heimatstadt Atareb im Jahr 2014, als ISIS dort immer noch aktiv war, um Jugendliche zu rekrutieren, sagte mir ein Vater, dass er seinem Sohn Zigaretten kaufe, um ihn zu deradikalisieren: „Es klingt wahrscheinlich komisch für dich, das zu hören, aber ich kaufte meinem Sohn jeden Tag eine Schachtel Zigaretten. Ich stellte auch sicher, dass er mindestens eine der Zigaretten mit mir rauchte, um sicherzugehen, dass er sich nicht dem IS angeschlossen hatte. Das war meine einzige Möglichkeit, gegen ihren Einfluss anzugehen.“ Als ich den Mann nach dem Ende von ISIS in Atareb wiedertraf sagte er mir, dass sein Plan aufgegangen sein. Nun versuche er, seinem Sohn das Rauchen wieder auszutreiben. Aus gesundheitlichen Gründen.

SyrerInnen habe ihre eigenen Akte der Auflehnung entwickelt, vom Rauchen über das Tragen farbenfroher Kleider, um den Kampf gegen ISIS symbolisch fortzuführen. Noch wichtiger ist jedoch, dass die negative Reaktion in den lokalen Gemeinden gegenüber den strengen ISIS-Regeln auch eine Gelegenheit darstellt, die traditionellen Vorstellungen zu Themen wie Geschlechtergleichheit und der Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben herauszufordern.