„Unser altes Leben gibt es nicht mehr“ – Julia Gerlach

Article  •  Publié sur Souria Houria le 15 octobre 2012

Kinder spielen in einem Flüchtlingslager im Libanon, nahe der syrischen Grenze. Foto: dapd

Syrische Flüchtlinge im Libanon leben in ständiger Unsicherheit. Denn die Regierung in Beirut ist mit dem Regime in Damaskus verbündet. Oppositionelle müssen daher um ihr Leben fürchten.

Syrische Flüchtlinge in Beirut? „Ich kenne keine“, sagt Maha S., während sich ihre Hand um eine Teetasse krampft. Dabei stammt die junge Frau mit dem braunen Haar und Pagenschnitt selbst aus Damaskus. Als der Konflikt in Syrien immer brutaler wurde, hat sie mit ihrem Mann und ihren beiden kleinen Kindern Syrien verlassen.

Nun sitzt sie an einem Küchentisch in Beirut und sagt: „Zur Flüchtlingsproblematik in Beirut kann ich nichts sagen.“ Seit fünf Monaten lebt Maha S., Mitte 30, in Beirut, aber als Flüchtling versteht sich nicht: „Wir leben ja nicht in Zelten oder campieren in einer Schule. Wir haben uns ganz normal eine Wohnung gemietet und die Kinder gehen zur Schule“, erzählt sie.

Eine kleine Zweizimmer-Wohnung bewohnt die Familie. Beirut ist eine teure Stadt. „Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir so lange hierbleiben“, sagt Maha S.. Bisher lebte die Familie von ihren Ersparnissen, doch langsam geht ihr das Geld aus. Adnan, Mahas Mann, arbeitete in Damaskus in einem Ministerium als Ingenieur. In Beirut hat er Probleme, einen Job zu finden: „Viele Flüchtlinge arbeiten hier illegal auf dem Bau, aber da habe ich keine Chance“, er deutet auf seinen Kugelbauch und die Brille: „Selbst, wenn ich wollte, würden sie mich nicht nehmen: Die Arbeitgeber sehen mir doch gleich an, dass ich ungeeignet bin.“

Die Geldnot und die Unsicherheit machen Maha und Adnan S. zu schaffen. „Ich hoffe natürlich, dass wir bald wieder in unser altes Leben zurückkehren können“, sagt Maha und schaut in ihre Teetasse. „Realistisch betrachtete ist diese Hoffnung eine Lüge: Unser Leben wird es so nicht mehr geben, und wer weiß, wie lange wir noch hierbleiben.“

Sie steht auf, stellt die Tasse in die Spüle. Zeit, die Kinder von der Schule abzuholen. Vielleicht geht sie mit ihnen auf den Spielplatz. Irgendetwas Normales tun: Das ist Mahas Rezept, um nicht verrückt zu werden. „Ich will aber nicht klagen, denn im Vergleich zu den richtigen syrischen Flüchtlingen geht es uns doch gut“, sagt sie.

Die libanesische Regierung zögert

Wie viele syrische Flüchtlinge es genau im Libanon gibt, ist unklar; offiziell registriert sind knapp 90.000. Allerdings haben sich viele, wie Maha und ihre Familie, nicht registrieren lassen. Im Libanon werden die Flüchtlinge nicht in Lagern untergebracht. Die Regierung stellt Schulen als Unterkünfte zur Verfügung. Ansonsten setzt sie auf die Aufnahmebereitschaft der libanesischen Gesellschaft: „Im Grunde ist dies ein guter Ansatz, denn Flüchtlingen geht es besser, wenn sie sich in die Gesellschaft integrieren können“, sagt Fabio Forgione.

Er leitet das Büro der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ im Libanon. Allerdings, sei die Grenze der Aufnahmebereitschaft erreicht; zudem seien Vorbereitungen dringend erforderlich: „Wenn das Regime in Damaskus fällt oder die Gewalt eskaliert, werden noch viel mehr Menschen hier Schutz suchen“, so Forgione.

Die libanesische Regierung zögert jedoch; wohl auch aus politischen Gründen. Denn in Beirut regiert mit Najib Mikati ein enger Vertrauter der Regierung in Damaskus. Immer wieder mischt sich das Assad-Regime direkt oder indirekt in die politischen Belange des Libanons ein. Stürzt Assad, wird auch die Regierung in Beirut gehen müssen, so die Vermutung vieler. Vorsorglich Flüchtlingslager zu bauen, widerstrebt der libanesischen Regierung schon aus diesem Grund.

Die „Ärzte ohne Grenzen“ kümmern sich vor allem um die Betreuung von traumatisierten Flüchtlingen. In sechs verschiedenen Städten haben die Helfer in den lokalen Krankenhäusern spezielle Ambulanzen für die psychologische Betreuung eingerichtet. „Wir haben Umfragen gemacht und festgestellt, dass die Mehrheit unserer Patienten direkt Gewalt erlebt und Familienmitglieder verloren hat. Sie leiden aber auch darunter, dass sie sich im Libanon nicht in Sicherheit fühlen“, so Forgione.

Tatsächlich ist es in den vergangenen Monaten immer wieder zu Gewalt gekommen. Es eskalierten die Spannungen in Tripolis: Dort leben mehrheitlich Sunniten und dorthin fliehen auch viele sunnitische Syrer. Tripolis ist aber auch die Heimat von Alawiten, und es kam mehrfach zu Schießereien.

Familien machen Jagd auf Syrer

Heikel ist auch die Lage in der Bekaa-Ebene. In dem mehrheitlich schiitischen Tal gibt es einige sunnitische Gegenden; gerade dorthin fliehen besonders viele sunnitische Syrer. Arsal, so heißt die kleine sunnitische Enklave, ist eine besonders arme Gegend. Trotzdem rücken die Menschen zusammen, nehmen Flüchtlinge in ihre Häuser auf; teilen, was sie haben.

Nicht einmal in Beirut sind syrische Flüchtlinge in Sicherheit: „Ich gehe seit Monaten nicht mehr auf die Straße“, sagt Schadi F.. Der 24-Jährige sitzt in einem Café in der Innenstadt und schaut sich alle paar Minuten um. Es hat mehrere Entführungen gegeben: Ein schiitischer Familien-Clan machte Jagd auf Syrer, wollte auf diese Weise die Regierung unter Druck setzten.

„Auch syrische Oppositionelle sind in Beirut einfach verschwunden“, sagt Schadi F.. Er gehört zu den Aktivisten der syrischen Revolution, war von Anfang an dabei und musste bereits im Frühjahr 2011 das Land verlassen. Er unterstützte den Aufstand, indem er internationale Medien mit Nachrichten über Demonstrationen versorgte und ihnen Videos, die Aktivisten in Syrien gedreht hatten, zur Verfügung stellte.

„Aber jetzt sind ja so viele Journalisten in Syrien, jetzt ist meine Arbeit überflüssig“, sagt er mit traurigem Blick. Mit seiner Aufgabe hat er auch seinen Glauben an die Revolution verloren: „Die Bewaffneten, die jetzt in Syrien kämpfen, sind nicht demokratischer als das alte Regime. Wenn Assad gestürzt ist, müssen wir als nächstes diese Leute stürzen. Meine Hoffnung liegt auf der Revolution nach der Revolution“, sagt er.

Revolutionär der ersten Stunde

Von solchen Zweifeln will Delair D. nichts hören. Auch er ist ein Revolutionär der ersten Stunde, doch er ist neu in Beirut. Der Zweifel hat ihn noch nicht erfasst. Mit einem stumpfen Messer schneidet er Kartoffeln klein. Heute gibt’s Suppe in der Aktivisten-WG. Vor einem Monat sind Delair und sein Bruder in die Dreizimmer-Wohnung eingezogen, jetzt sind sie sieben. Eine von vielen Wohngemeinschaften: Beirut ist ein Sammelpunkt der syrischen Opposition. Auch viele Künstler sind hier.

„Wir haben zwar Angst, dass uns die Schläger von Assad schnappen, Geld haben wir auch nicht und überhaupt: Wer weiß, was passiert. Aber unsere Gemeinschaft ist sehr nett, und es ist lustig, mit so vielen politisch Aktiven zusammen zu leben“, sagt er. Neben ihm auf dem Sofa sitzt sein Freund Omar und spielt Gitarre. „Es kann nur besser werden!“, sagt Delair.

source : http://www.fr-online.de/aegypten-syrien-revolution/fluechtlinge-aus-syrien–unser-altes-leben-gibt-es-nicht-mehr-,7151782,20602526.html