Die Eingeschlossenen – von Christoph Reuter

Article  •  Publié sur Souria Houria le 12 décembre 2013

In mehreren Vorstädten von Damaskus sterben Menschen, weil sie von jeglicher Versorgung abgeschnitten sind. Viele von ihnen werden den Winter nicht überstehen.

Das Gas überlebte er. Zehn Tage nach den Chemieangriffen vom 21. August aber starb der dreijährige Ibrahim Chalil. Er verhungerte – so wie Stunden nach ihm das nächste Kind und vier Tage darauf das dritte im Damaszener Vorort Muadamija.

Doch während die Sarin-Attacken auf Damaskus’ Vorstädte die Welt bewegten, nimmt kaum jemand Notiz von den neuen Toten dort. Nach Monaten der Belagerung, abgeschnitten von Nahrungslieferungen, Strom, Wasser, jedweder Form der Hilfe, sterben die Ersten an Unterernährung.

Auch in Jarmuk im Süden von Damaskus und anderen von der Armee abgeriegelten Orten sind Kinder verhungert. Aber nirgends ist die Lage so fatal wie in Muadamija, wo bis Mitte Oktober sechs Kinder starben « und Dutzende schon derart geschwächt sind, dass jede Erkältung sie töten wird », so Dr. Amin Abu Ammar, einer der letzten Ärzte dort.

Dass Präsident Baschar al-Assad erklärte, die Chemiewaffenbestände aufzugeben, ist eine gute Nachricht aus diesem Krieg, der sonst keine positiven Meldungen hervorbringt. Zu gut. So gut, dass den Chemiewaffeninspektoren prompt der Friedensnobelpreis verliehen wurde und es so schien, als fände der Rest des Krieges nicht mehr statt. Und während Europas Regierungen vor allem besorgt sind über das Einsickern ausländischer Dschihadisten in Syrien, sitzen in Muadamija um die tausend bewaffnete lokale Kämpfer und haben nicht mal mehr Kontakt zu benachbarten Ortschaften.

Ihre geografische Lage ist der Stadt, in der früher über 60 000 Menschen lebten, zum Verhängnis geworden. Wie an Hunderten anderen Orten demonstrierten im Frühjahr 2011 die Bewohner auch hier gegen Assad. Aber nirgends taten sie dies näher an den Nervenzentren des Regimes: dem Hauptquartier der 4. Division im Norden, den Quartieren der Republikanischen Garde im Westen und dem « Präsidenten-Flughafen » von Mezze im Nordosten.

Muadamija war schon eingekesselt, bevor auch nur ein einziger Soldat ausrückte. Dass hier nicht die Armen wohnten, sondern der gutausgebildete Mittelstand, machte die Situation nur schlimmer.

Muadamija sollte unterworfen werden. Als das trotz Schüssen auf Demonstranten und Massenverhaftungen nicht gelang, sollte es erobert werden. Als auch dieses Vorhaben sich trotz Granatbeschuss und Luftangriffen nicht umsetzen ließ, gingen Raketen mit Sarin auf die Stadt nieder, töteten nach Angaben der Ärzte 85 Menschen.

Doch was die Chemiewaffen nicht vermochten, schafft nun ganz langsam der Hunger: die Vernichtung einer Stadt. Ohne dass dabei eine rote Linie Washingtons überschritten würde, ohne öffentlichen Aufschrei in der Welt. Und ohne Propaganda-Bemühungen aus Damaskus, das Vorgehen zu kaschieren: « Lasst sie ein wenig hungern und sich dann ergeben », sagte ein Paramilitär der neu ausgehobenen « Verteidigungskomitees » aus der alawitischen Glaubensgruppe des Assad-Clans Anfang Oktober einem Reporter vom « Wall Street Journal ».

Seit dem 18. November 2012 ist der Vorort Muadamija von der Außenwelt abgeschnitten. Die Soldaten an den Kontrollposten lassen niemanden mehr hinein oder heraus. Scharfschützen schießen auf jeden, der versucht, die Linien zu kreuzen. 1700 Tote hat das Ärztekomitee seit Beginn des Aufstands gezählt, 738 allein seit der Blockade. Fast alle der einst 22 Schulen sind Ruinen. Der Unterricht, anfangs noch in einigen Moscheen fortgeführt, kam zum Erliegen, als auch die Moscheen gezielt vom Hügel der 4. Division beschossen wurden.

Im März schlossen die letzten Läden, weil es nichts mehr zu verkaufen gab. Strom, Wasserleitungen und das Telefonnetz sind gekappt. Brot gab es schon vorher nur noch, wenn es gelang, Mehl hineinzuschmuggeln. Assad hat Muadamija zur Geisterstadt gemacht.

« Erst haben wir von den Vorräten gelebt und dem, was wir in den Häusern jener fanden, die geflohen waren », erzählt Ahmed Muadamani, ein ehemaliger Geschäftsmann, der nun im Stadtrat der Aufständischen für die Außenkontakte zuständig ist, über eine der letzten Internetverbindungen via Satellitentelefon.

« Dann haben viele versucht, auf allen freien Flächen Tomaten und Kartoffeln anzubauen, aber auch dabei sind mehrere ums Leben gekommen, weil Menschen in den Feldern und Gärten immer wieder von den Scharfschützen beschossen werden » – Frauen in die Brust, Männer in den Kopf, so die Bilanz des Arztes. Für den Winter sei nun gar nichts mehr da.

Eine Weile gelang es Freunden und Verwandten der Eingeschlossenen noch, auf der Straße zwischen Damaskus und den Golanhöhen nahe an Muadamija vorbeizufahren und Tüten voller Lebensmittel aus dem Auto zu werfen. Die wurden dann unter Lebensgefahr eingesammelt. Doch seit einem halben Jahr ist die Strecke gesperrt, haben Scharfschützen auch dort Position bezogen.

Mitte Oktober war « Id al-Adha », das Opferfest in Anlehnung an jene biblische Erzählung von Abraham, der auf Geheiß Gottes losging, seinen Sohn Isaak zu opfern und erst in letzter Minute von einem Engel aufgehalten wurde. Im Islam nimmt die Geschichte mit Ibrahim und Ismail denselben Verlauf. Nur dass die Rettung des Sohnes traditionell mit dem Schlachten eines Tieres, meist eines Schafes, gefeiert wird, dessen Fleisch man an Bedürftige verteilt.

Syrische Freunde in Deutschland wollten den Hungernden von Muadamija wenigstens zu diesem Fest ein Schaf, möglichst mehrere, schenken. Über Skype fragten sie an, wie man das organisieren könne, das Geld wollten sie überweisen. Nach drei Tagen kam die Antwort: « Es gibt kein Schaf mehr. Nicht ein einziges in der ganzen Stadt. Alles, was krabbelt, läuft und fliegt, haben wir schon gegessen. Und Geld kann man nicht essen. »

In Jarmuk, das erst seit drei Monaten belagert wird wie Muadamija, sitzen bis zu 40 000 Menschen fest. Zum Opferfest erließ dort ein Imam eine Fatwa, ein religiöses Gutachten. « Wir haben den Verzehr von Hunden, Katzen, Eseln und Kadavern erlaubt », erklärte Scheich Salah al-Chatib. « Denn sonst gibt es nichts mehr. Wie lange wollt ihr dem zusehen? », fragte er die feiernden Muslime im Rest der Welt. « Bis wir uns gegenseitig aufessen? »

Die letzten Tiere, die nicht geschlachtet werden in Muadamija, sind drei Kühe – für die wiederum Gras zu sammeln gefährlich geworden ist, weil offene Wiesen im Zielbereich der Scharfschützen liegen. Aber ohne die Kühe gäbe es überhaupt keine Milch mehr für die Kinder.

Alle Versuche, das Überleben zu organisieren, scheitern: Die Unterernährten werden rascher krank, Medikamente sind Mangelware. Die beiden Untergrundkrankenhäuser haben kaum noch Strom, weil es keinen Diesel für die Generatoren mehr gibt. Für umgerechnet 20 Euro pro Kilogramm würden dieselben Milizionäre, die auf sie schießen, ihnen manchmal Zucker verkaufen, erzählt der Arzt, « aber nie Reis oder Milch ».

Siebenmal hat der Rote Halbmond in den vergangenen Monaten versucht, Lebensmittel in die Stadt zu bringen, vergebens. Das US-Außenministerium und die Uno appellierten in den vergangenen Wochen an Damaskus, humanitäre Hilfe für die belagerten Zivilisten zu erlauben. Keine Reaktion. Die Eingeschlossenen seien ja alle Terroristen oder deren Helfer, so die offizielle Sprachregel.

Auch Vororte im Nordosten von Damaskus sind seit Monaten abgeriegelt. Aber ihre Gebiete sind größer, es gibt Schmuggelwege und vor allem keine Scharfschützen, die Kinder beim Holzsammeln oder Grasrupfen erschießen. Das Mittel der Belagerung ist zur allgegenwärtigen Waffe geworden – auch auf Seiten der Rebellen, die den Westteil Aleppos umzingelt haben. Nur dass dort keine Zivilisten am Gehen gehindert werden und Lebensmittel passieren können.

Mitte Oktober durften nach wochenlangen Verhandlungen zwei Gruppen Muadamija verlassen, etwa 1600 Zivilisten: Frauen und Kinder, aber keine Männer zwischen 14 und 60. Als am 16. Oktober eine dritte Gruppe verabredungsgemäß am westlichen Kontrollposten ankam, um evakuiert zu werden, eröffnete die Artillerie vom Hügel der 4. Division ohne Vorwarnung das Feuer. Vier Menschen starben, mehrere wurden schwer verletzt, die anderen flohen zurück in die Stadt, in der noch immer 10 000 Menschen leben.

Der 65-jährige Abd al-Rassak al-Hamschari war in der letzten Gruppe, die noch herauskam. Er hat es bis in den Libanon geschafft, in ein kleines Dorf in der Bekaa-Ebene nahe der Grenze. Nun sitzt er in einem unverputzten Kellerloch aus Beton, das sich zehn Menschen teilen, und ist froh über so viel Luxus: « Wenigstens keine Granaten mehr! »

Sein Sohn ist tot, seine Schwiegertochter wird hoffentlich auch noch entkommen. Über die Männer, die bleiben, macht er sich keine Illusionen: « Das sind doch unsere Söhne, Cousins, Enkel, die werden nicht aufgeben. Und wenn sie alle sterben. Aber was hätte ich dort noch ausrichten können? Ich bin alt und nutzlos. »

Über die « Katzen-Fatwa » aus Jarmuk lacht er kurz und heftig: « Die Idee ist ja gut. Aber als wir rausgegangen sind, hatte ich schon seit Wochen keine Katze mehr auf der Straße gesehen. Die sind doch längst alle gegessen worden. »

« Wie lange wollt ihr dem zusehen? », fragte der Imam. « Bis wir uns gegenseitig aufessen? »

source : http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-118184418.html

date : 28/10/2013