Drei Jahre Konflikt & eine Neustrukturierung der (globalen) geopolitischen Machtverhältnisse – Presseschau 26. März – von Christiane

Article  •  Publié sur Souria Houria le 31 mars 2014

Zum 15. März 2014, dem dritten Jahrestag der syrischen Revolution, lässt sich eine traurige Bilanz ziehen. So berichten die UN, dass mittlerweile 2,5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind, davon allein 1,5 Millionen im letzten Jahr. Das bedeutet, dass durchschnittlich 4110 Menschen pro Tag das Land verlassen mussten – jede Minute drei Personen. Die oppositionelle Organisation Syrian Observatory for Human Rights, welche die Zahl der Todesopfer dokumentiert – ein Unterfangen, das die UN längst aufgegeben haben – berichtet von über 146.000 Toten seit Beginn des Konflikts. Diese Zahl bedeutet, dass alle zehn Minuten ein Mensch stirbt. Zudem entspricht diese Zahl der Opferzahl nach 15 Jahren Bürgerkrieg im Libanon (Washington Post).

Besonders unter dem Konflikt zu leiden haben nach einer Studie von UNICEF die syrischen Kinder. Demnach wären mit 5,5 Millionen aktuell doppelt so viele Kinder vom Bürgerkrieg betroffen wie noch vor zwölf Monaten. Die Konfrontation mit Gewalt, der Zusammenbruch des Gesundheits- und Bildungssystems und die zunehmend schlechter werdende ökonomischen Situation der Familien ergibt große psychische Leiden für die Kinder. So manifestiert sich, wovor Hilfsorganisationen schon lange warnen: Die Verwüstung einer ganzen Generation von Kindern.  Auch die 1,2 Mio. Kinder, welche außerhalb Syriens Zuflucht gefunden haben, leben meist unter schwierigen Bedingungen – mit begrenztem Zugang zu sauberem Wasser, Nahrung und Bildungsmöglichkeiten –, in Camps in überforderten Gastländern. Der UNICEF-Bericht beklagt, dass die Kinder aufgrund der Umstände zu frühem Erwachsenwerden genötigt werden. So würde 1 von 10 syrischen Kindern arbeiten und jedes fünfte syrische Mädchen z.B. in Jordanien zur Kinderehe gezwungen. Die Dokumentation “Forgotten? Syria’s Children of War” von NBC News beschäftigt sich mit diesen Kindern, die die Spuren des Krieges lange in sich tragen werden.

Doch auch nach drei Jahren rückt nun, mit der zunehmenden Spaltung zwischen Russland und dem Westen aufgrund der Krim-Krise, eine Lösung des Syrien-Konflikts zusätzlich in weite Ferne. Russland nimmt bezüglich Friedensverhandlungen  mit dem Assad-Regime eine zentrale Rolle ein. Eine friedliche Lösung des Konfliktes in Genf II war zuletzt gescheitert, da Bashar al-Assad den eigentlichen Zweck der Konferenz – nämlich den Beschluss über eine Übergangsregierung für Syrien – nicht anerkennen wollte. Um Assad zu einem Meinungswechsel zu bewegen, appellierten die UN, die westlichen Staaten und die Golfstaaten an Russland. Mit der fundamentalen Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Russland und den USA scheint aktuell jedoch eine Wiederaufnahme der Genfer Gespräche unwahrscheinlich – ebenso wie eine Lösung ohne die Involvierung von Russland (Reuters).

Stattdessen scheint die sich vertiefende Kluft zwischen Russland und den USA Assad zu neuem Selbstvertrauen verholfen zu haben, welches ihn dazu ermutigt, die Pläne für seine Wiederwahl trotz des andauernden Konfliktes voranzutreiben. Die Verbindung zwischen den alten Verbündeten des Kalten Krieges – Russland und Syrien – scheint sich sowohl im Bereich der Graswurzelbewegungen als auch auf offizieller Ebene zu vertiefen. Für russische und syrische Offizielle sowie deren Unterstützer stellen der syrische Bürgerkrieg und die Auseinandersetzung um die Krim Teile eines größeren Kampfes gegen amerikanischen Universalismus nach dem Kalten Krieg dar. Sie verstehen sich somit als Widerständler gegen ein westliches Komplott, das legitime aber unbequeme Staatsoberhäupter wie Assad oder Viktor Yanukovych stürzen möchte. Sowohl die syrische Regierung als auch die Kritiker von US-Präsident Barack Obama sehen die aktuellen Ereignisse als Indikatoren für eine Abnahme des amerikanischen und eine Zunahme des russischen Einflusses. Hier deute sich eine Ablösung der USA als einzige Weltmacht nach dem Niedergang der Sowjetunion an (New York Times).

Doch auch innerhalb Syriens kommt es zu einer Neustrukturierung der geopolitischen Verhältnisse, wie Onur Burcak Belli für die ZEIT berichtet. So haben die Kurden unter Federführung der Partei PYD eine Region im Norden Syriens, die unter ihrer Kontrolle steht, für autonom erklärt. Die neue kurdisch verwaltete Region namens “Rojava” besteht aus den Kantonen Efrin, Kobane und Cisire; sie zieht sich zumeist entlang der syrisch-türkischen Grenze bzw. der syrisch-irakischen Grenze. Der neu ausgerufene autonome Staat verfügt über zwei Präsidenten an der Spitze, einen Verwaltungsrat aus 20 Mitgliedern sowie eine Frauenquote von 40% für die gesamte Verwaltung. Es gilt die Gleichberechtigung von Christentum und Islam. Nach der autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak bildet Rojava somit den zweiten Kurdenstaat, welcher allerdings von der syrischen Ausgabe der türkischen PKK, der Partei der Demokratischen Union (PYD), geführt wird. Im benachbarten Kurdistan-Irak hat dagegen tonangebend die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) die Kontrolle inne. Im Moment sorgt der bewaffnete Arm der PYD im autonomen Rojava für Ruhe, weshalb sich auch 40 weitere kurdische Gruppen Syriens der autonomen Übergangsregierung angeschlossen haben.

Wie Belli berichtet, habe Assad außerdem der PYD eine carte blanche erteilt, was den syrischen Kurden bereits vor der Autonomieerklärung ermöglichte, ihre eigenen Checkpoints, Schulen und Krankenstationen zu unterhalten. Über Assads Motive könne man laut Belli spekulieren, dass er z.B. einer Spaltung des Landes zuvorkommen wollte und deshalb eine autonome Region akzeptiert, oder dass die Region einen willkommenen Puffer zur Türkei darstellt – frei nach dem Motto „Die Feinde meines Feindes sind meine Freunde“. Ob sich Rojava jedoch halten wird können, bleibt abzuwarten. Die Kämpfer von Al-Nusra und ISIS haben gleich nach der Autonomieerklärung Rojavas eine neue Front eröffnet – vermutlich gestützt von der Türkei, welche kein Interesse an einem zusätzlichen Kurdenstaat an ihrer Grenze hat. Auch vom kurdischen Nord-Irak ist – unter den derzeit vorherrschenden politischen Bedingungen – keine Unterstützung für das konkurrierende kurdische Projekt erwartbar, da die PKK & PYD ganz andere politische Vorstellungen als die DPK verfolgen. So befindet sich Rojava im Schraubstock zwischen Al-Qaida-Dschihadisten und einem gleichgültigen bis abschätzigen Irak, zwischen dem Assad-Regime und der Türkei. Nitchtsdestotrotz sollen im Frühling die ersten Wahlen im autonomen Rojava stattfinden. Der Artikel Bellis ist etwas kritisch zu sehen aufgrund der recht geringen Einordnung Rojavas in den weiteren politischen Kontext, v.a. auch in Bezug auf die innerkurdischen Realitäten in Rojava sowie der kurdischen Rivalität zwischen dem PYD-kontrollierten Rojava und dem DPK-kontrollierten Kurdistan im Nord-Irak.

source : https://www.adoptrevolution.org/drei-jahre-konflikt-neustrukturierung-geopolitischen-machtverhaeltnisse-presseschau-26-maerz/

date : 26/03/2014