Interview Yarmuk Camp: “In vielen Straßen entstehen neue Komitees” – par Ansar

Article  •  Publié sur Souria Houria le 17 août 2012

Anfang August beschoss die syrische Armee das Palästinenserlager Yarmuk bei Damaskus mit Mörsergranaten. Dabei kamen 30 Menschen ums Leben, hunderte wurden verletzt. Die Adopt A Revolution-Korespondentin Ansar sprach mit dem Aktivisten Abu Ubada des Lokalen Koordinierungskomitees in Yarmuk über die Lage der Palästinenser, ihre Position zur Revolution und die zunehmende Bewaffnung.

Aar: Es gibt Berichte, wonach Palästinenser nicht in den Libanon einreisen dürfen. Wie behandelt das Regime im Allgemeinen die Palästinenser in diesem Konflikt?

Wenn wir hier über Palästinenser reden, dann meinen wir palästinensische Syrer, also Palästinenser die syrische Papiere haben. Es stimmt nicht ganz, dass diese Leute nicht in den Libanon einreisen können. Es gibt viele der palästinensischen Syrer, die das tun. Aber es ist nicht ganz so einfach wie für Syrer. Wir müssen uns von den syrischen Behörden eine Genehmigung holen, nicht von den libanesischen. Wenn wir diese Genehmigung haben, können wir in den Libanon ein- und ausreisen. Das geht ganz problemlos, da macht uns das Regime keine Probleme. Jedenfalls solange man nicht politisch gesucht ist oder dergleichen. Wer diese Genehmigung nicht hat, kann allerdings nicht in den Libanon einreisen, das stimmt.

Wie hat sich die Haltung des Regimes gegenüber den Palästinensern geändert?

Zu Beginn der Revolution kann man davon sprechen, dass alle Seiten, Regime und Opposition, versucht haben, die Palästinenser neutral zu halten. Es wurde besonders versucht, das Lager selbst da rauszuhalten, aber nicht unbedingt die Palästinenser an sich, so von Seiten der Opposition. Was das Regime anbelangt, so wollte es von Anfang an die Palästinenser ausnutzen. Also sie als politische Karte ausspielen, genau so, wie das schon unter Hafiz al-Assad der Fall war.

Das beste Beispiel dafür ist der 15. Mai 2011, der Tag der Nakba. Zum ersten Mal überhaupt hat das Regime den Palästinensern erlaubt zur Grenze mit Israel vorzudringen, also zum Golan. Rami Makhlouf wollte Israel zeigen: „Passt auf wir haben die Palästinenser.“ Das Regime hat uns als Drohung benutzt. Damals ist es sogar einigen Palästinensern gelungen auf die andere Seite der Grenze zu gelangen. Das Regime wollte damals die Gefühle der Palästinenser ausnutzen, welche schon immer mal die direkte Konfrontation mit den Israelis haben wollten.

Allgemein gesehen, war es so, dass nachdem die Revolution in Daraa begonnen hat, jeder der aus Daraa kam unter Generalverdacht stand und garantiert bei jeder Straßensperre komplett untersucht wurde. Sogar an den Universitäten, und die wurden zu Beginn der Revolution besonders bewacht, wurden die Studenten aus Daraa richtig schikaniert. Die Palästinenser hingegen konnten sich frei bewegen und wurden eigentlich nie extra untersucht bei den Checkpoints. Das Regime hatte einfach so angenommen, dass wir auf seiner Seite stehen.

Das hat sich aber Schritt für Schritt verändert. So mehr die Palästinenser zeigten, dass sie Teil der Revolution sind, umso schwieriger wurde es für sie. Besonders als die Hamas eine klare Haltung gegenüber dem Regime eingenommen hatte, veränderte sich unsere Behandlung durch das Regime. (Anmerkung: Am 24. Februar 2012 erklärte sich der Premierminister von Gaza Imail Hanya solidarisch mit dem syrischen Volk und seiner Revolution)

In Homs, Lattakia, Daraa etc. haben sowieso schon lange Demonstrationen für die Revolution stattgefunden. Die Palästinenser sind schrittweise in die Revolution eingetreten, aber nicht nur durch das Organisieren von Demonstrationen. Sondern auch durch die Lebensmittelversorgung der belagerten Städte.

Am 13.7.2012 veränderte sich alles. An diesem Tag hat dann endlich auch eine riesige Demonstration in Yarmuk stattgefunden. In Folge dessen haben sich Teile der palästinensischen Befreiungsarmee abgespalten und in die Freie Syrische Armee (FSA) eingegliedert. Jetzt behandelt man uns an den Straßensperren genauso wie andere Syrer. Wir werden immer und überall stark durchsucht. Eine große Angst für uns besteht jetzt darin, dass in Yarmuk ein zweites Baba Amr (Stadtteil von Homs, der im März durch wochenlangen Beschuss in Schutt und Asche gelegt wurde) stattfinden könnte.

Viele Flüchtlinge aus benachbarten Stadtteilen suchen Unterschlupf im Lager Yarmuk. Glaubst Du, dass das der Grund für den Angriff des Regimes war?

Ich glaube, so ein Regime wie das syrische, braucht keinen Grund für so eine Attacke. Es behauptet immer, dass die FSA die Anschläge verübt hätte.

Könnt Ihr denn sicher sein, dass das Regime Euch angegriffen hat und nicht irgendeines Miliz?

Zunächst einmal glaube ich nicht, dass der Anschlag von der FSA veranstaltet wurde, ganz einfach weil, die Leute der FSA dem Lager selber entstammen. Es sind unsere Leute. Außerdem verübt die FSA gezielte Anschläge gegen bestimmte Einrichtungen, das Regime hingegen greift unkontrollierte an.

In Rukn ad-Din leben auch viele Palästinenser, dieser Bezirk liegt direkt unter dem Jabal Qasiun, wo das Regime ihre Waffenanlagen hat. An diesem Tag haben viele unserer Leute dort selber gesehen, wie die Raketen von dort gestartet wurden, gerichtet auf Yarmuk.

Bevor dieser Anschlag passiert ist, standen die Bewohner sehr auf Seiten der FSA. Hieraus ergeben sich doch gleich zwei Gründe für das Regime, so einen Anschlag zu verüben. Erstens will man Zwietracht zwischen der FSA und den Bewohnern des Lagers sähen. Ein weiterer Effekt des Anschlags sollte eine Art Warnung an die Bewohner des Lagers sein. Mit einem Schlag sind an diesem Tag 30 Leute gestorben. Die Bevölkerungsdichte in Yarmuk ist so hoch, dass jede bewaffnete Auseinandersetzung automatisch viele Tote nach sich zieht. In anderen Gegenden hätten zwei solche Einschläge vielleicht ein oder zwei Opfer nach sich gezogen, aber nicht 30.

Es gibt seit langem ein lokales Koordinierungskomiteee in Yarmuk, das für die Revolution kämpft. Es gibt aber auch Fraktionen auf Seiten des Regimes. Wie schätzt Du die generelle Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung ein?

Die Palästinenser haben immer sehr unter den palästinensischen Fraktionen gelitten. Wir wurden immer ausgenutzt für ihre Zwecke. Es ist klar, dass diese palästinensischen Fraktionen Handlanger des Regimes sind. Die Opposition hat versucht die palästinensische Sache neutral zu halten.

Die Palästinenser sind in zwei Lager gespalten. Es gibt die Fraktionen und es gibt die Unabhängigen. Insgesamt kann man allerdings sagen, dass die Mehrheit der Palästinenser eher mit der Revolution ist, insbesondere nach dem Anschlag auf das Lager Yarumk haben die Leute hier Position bezogen.

Das Koordinationskomitee hat für alle Leute im Lager gearbeitet, nicht nur für die Palästinenser, es ist total egal, ob man Syrer oder Palästinenser ist. Das ist wichtig zu erwähnen. Das kann man insbesondere an den Parolen sehen: „Eins, Eins, Eins. Palästinenser und Syrer sind Eins.“

Es gibt natürlich viele Palästinenser, die ihren Nutzen daraus ziehen, mit dem Regime zusammenzuarbeiten. Ahmad Jibril etwa, Führer der Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC) hat seinen Nutzen vom Regime.
Es gibt auch viele Palästinenser, die Angst haben, dass, wenn das Regime weg ist, eine palästinensische Existenz in Syrien nicht mehr möglich sein würde.

Hatte Euer Komitee Zulauf nach dem Angriff?

Es sind einige eingetreten, aber es haben sich auch neue Initiative gebildet. Alle Gruppen arbeiten aber zusammen und kooperieren miteinander. Es ist so viel passiert in den letzten Wochen: die FSA hält sich nun im Mukhayyam auf, es leben viele Flüchtlinge hier, es wurden Anschläge auf uns verübt. Insgesamt sehen die Leute, dass sie sich organisieren müssen, um mit diesen Problemen umgehen zu können. Genauso wie das überall der Fall wäre.

Woran arbeitet das Komitee gerade?

Die Arbeit des Koordinationskomitees hat sich bisher eigentlich eher auf organisatorische Belange beschränkt: das Organisieren und Durchführen von Demonstrationen, der Austausch von Informationen mit anderen Gruppen. Außerdem kümmert sich das Komitee darum, die Nachrichten aus dem Camp sicherzustellen. So werden etwa Augenzeugen befragt, anschließend werden diese Informationen verifiziert und dann erst veröffentlicht.

Es gibt insgesamt zurzeit ein großes Bedürfnis, sich zu organisieren. So dass eigentlich gerade überall Koordinationskomitees entstehen: Das Komitee von der Straße 30, dann das Komitee von Ende der Straße 30 etc. Deswegen haben wir vor ca. 20 Tagen beschlossen, dass wir uns einheitlicher organisieren müssen, um effektiv zu sein.

Am Anfang als das Lager noch nicht so involviert war, wurden wir immer beschuldigt, dass wir für das Regime wären. Die Leute aus Midan haben uns vorgeworfen, dass wir nichts machen und keine klare Position beziehen würden. Wir haben aber immer gesagt, dass das Lager sicher bleiben muss, damit hier andere Leute Schutz finden können und weil die Bevölkerungsdichte so groß ist.

Vor dem 13.7.2012 gab es auch Demonstrationen im Lager, aber das waren sogenannte fliegende Demonstrationen. Am 13.7.2012, als diese große Demonstration war, haben die Leute dann endlich die Position des Lagers gehört. An diesem Tag gab es auch viele Tote hier. Die Demonstration am Tag darauf war sogar noch größer, wir sind tatsächlich 5 Stunden lang durch Yarmuk gelaufen und haben demonstriert. Die Folge davon war, dass Yarmuk inzwischen seit einem Monat von Panzern umstellt ist.

Die libanesische Tageszeitung Daily Star berichtete, dass das Regieme Palästinenser bewaffnet, um gegen die Freie Syrische Armee zu kämpfen. Stimmt das?

Nicht das Regime bewaffnet die Leute, sondern das Generalkommando (PFLP-GC) unter Ahmad Jibril verteilt Waffen. Es ist sogar so weit gekommen, dass sie einfach allen, die wollen, Waffen geben, sogar Kriminellen von der Straße. Dies ist eine ungezielte Bewaffnung und sehr schädlich. Vor zwei Tagen gab es einen Zusammenstoß mit Kämpfern der FSA und diesen Bewaffneten. Dabei sind einige Kämpfer der FSA ums Leben gekommen. Diese Bewaffneten behaupten, dass sie uns schützen müssten, aber wovor denn? Sobald die FSA auftaucht, verschwinden diese Bewaffneten aber oft, da sie ja nicht systematisch bewaffnet wurden, können sie auch nicht systematisch agieren.

Wie wird diese Bewaffnung von den Bewohnern von Yarmuk gesehen?

Wir sehen das als große Gefahr. Deswegen haben wir eine Kampagne ins Leben gerufen, die zum Ziel haben soll, dass diese unsystematische Bewaffnung aufhört. Die Idee dahinter ist aber auch, dass man Bewaffnung nicht mit Bewaffnung bekämpfen kann. Das Generalkommando will Chaos stiften im Lager. Wir Jugendlichen wissen aber, dass wir das nicht mit einer Gegenbewaffnung verhindern können. Deswegen ist unser Ansatz, erst mal das Bewusstsein der Leute dafür zu sensibilisieren, was es heißt, wenn an einem Ort wie Yarmuk eine so hohe ungezielte, unsystematische Bewaffnung stattfindet.

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass man bei Yarmuk beachten muss, dass im Camp, wenn man von den ursprünglichen Bewohnern ohne Flüchtlinge ausgeht, ca. 1,5 Millionen Menschen leben. Ich schätze, dass die Anzahl der Palästinenser davon 150.000 beträgt. Sie machen also nur 10 Prozent der Bewohner von Yarmuk aus. Aus meiner Sicht, scheint die Mehrheit der Aktivisten im Lager Palästinenser zu sein. Zu mir meinte neulich ein syrischer Freund und Aktivist, der in dem palästinensischen Camp in Lattakia aufgewachsen ist, bezogen auf das Engagement der Palästinenser in der syrischen Revolution, dass das Palästinenser-Sein wohl nicht nur eine Nationalität sei, sondern eine Kultur ist.

source : https://www.adoptrevolution.org/interview-yarmuk-camp-in-vielen-strasen-entstehen-neue-komitees/