« Das ist alles nur Theater » – Interview mit Adonis – von Iris Radisch
Adonis ist der bedeutendste Dichter der arabischen Welt. Beim Gespräch über den Niedergang der islamischen Kultur rechnet er mit dem Westen ab und sagt: « Das werden Sie nicht drucken. » Von wegen!
Seit Jahrzehnten bewohnt der Dichter Adonis zwei Wohnungen in der Tour Gambetta im Wolkenkratzerviertel La Défense vor den Toren von Paris: ein Storchennest in der 35. Etage, in dem er mit dem Blick auf die zur Streichholzgröße geschrumpfte Welt seine Gedichte schreibt. Und eine Alltagswohnung, die der Erde näher ist. Vor zehn Jahren empfing er die Besucherin schon einmal zum Gespräch über seine Lyrik in der 35. Etage. Dieses Mal sprechen wir über den Untergang des Morgenlands – in der neunten Etage. In der Zwischenzeit hat Adonis ein paar Zähne, aber nicht sein wild glucksendes Lachen verloren.
DIE ZEIT: Erinnern Sie sich noch? Es gab einmal eine Zeit, die noch gar nicht so lange vorbei ist, da bewegten sich die arabischen Frauen frei im öffentlichen Leben, sie trugen schöne Kleider, sie studierten. Heute sind sie unsichtbar, versteckt, verschleiert. Wo ist die arabische Modernität geblieben?
Adonis: Es hat nie eine arabische Modernität gegeben. Gesellschaften, die sich auf ein religiöses Menschenbild und eine religiöse Weltsicht gründen, können nicht modern sein. Die arabische Moderne gab es nur zum Schein, die Autos, die Kühlschränke, die Flugzeuge, die schönen Kleider waren nur Dekoration.
ZEIT: Orientreisende der achtziger und neunziger Jahre wie der deutschiranische Schriftsteller Navid Kermani berichten von der weltoffenen, multikulturellen arabischen Kultur jener Jahrzehnte, die nun verloren sei.
Adonis: Diese Freiheit war nur eine Fassade, die keine Bedeutung hatte. Sie war nichts als eine Mode.
ZEIT: Auch im Chanel-Kostüm waren die arabischen Frauen Menschen zweiter Klasse?
Adonis: Im Libanon, in Syrien, in Ägypten, im Irak hat es nie eine Verbesserung der Lage der Frauen gegeben. Dazu müsste man die Familienstrukturen verändern, die Frauen müssten über sich selbst bestimmen, eigene Entscheidungen treffen und ihr Leben, auch ihr Liebesleben, selbst entwerfen dürfen. Das alles hat es nie gegeben. Die sogenannte arabische Modernität war eine rein oberflächliche Nachahmung des westlichen Lebens. Die Regime, denen sie sich verdankte, haben sich lediglich für ein paar Investmentfirmen geöffnet. Im Kern hat sich die arabische Kultur seit fünfzehn Jahrhunderten nicht verändert. Sie negiert die Freiheit des Individuums, sie negiert seine Rechte, sie negiert die Weiblichkeit. Jedes der angeblich moderaten arabischen Regime hat in allen wesentlichen Punkten die Herrschaftsweisen der Kalifen aufrechterhalten, auch wenn es das Land äußerlich in ein modernes Kaufhaus verwandelt hat. Es war der schlimmste Autoritarismus im Gewand einer sogenannten Freiheit.
ZEIT: Und seit fünfzehn Jahrhunderten hat die arabische Zivilisation sich nicht weiterentwickelt?
Adonis: Der arabische Mensch ist noch nicht geboren, er existiert noch nicht. Die arabischen Länder sind bis heute reine Stammesgesellschaften. Wenn die Muslime von einer echten Revolution träumen, müssen sie zwei Dinge tun. Sie müssen Religion und Staat trennen. Und sie müssen die Frauen befreien. Solange sie das nicht fertigbringen, wird sich absolut nichts ändern. Dann gibt es ab und zu mal ein Regime, das sich ein bisschen mehr öffnet, Minister, die einem besser gefallen als andere, aber das ist alles ganz unbedeutend. Ohne die Emanzipation der arabischen Frau wird es in den arabischen Ländern niemals einen Fortschritt geben.
ZEIT: In Deutschland demonstrieren im Augenblick Tausende gegen eine « Islamisierung des Abendlandes ». Muss man sich vor dem Islam fürchten, ist er an sich intolerant?
Adonis: Ja, aber das gilt für alle Monotheismen, den jüdischen eingeschlossen. Der Monotheismus überlässt seinem letzten Propheten jeweils die ultimative Wahrheit. Das heißt: Am Ende hat Gott nichts mehr zu sagen, es gilt nur noch das Wort des Propheten. Und jeder Monotheismus hält seinen Propheten für den einzig legitimen. Das religiöse Denken ist immer ein ausschließendes. Das Anderssein des anderen, die Grundfigur der arabisch-griechischen Philosophie, ist ihm fremd.
ZEIT: Die Barbarisierung durch den « Islamischen Staat » ist dennoch eine Eskalation, die uns fassungslos macht. Wie ist es dazu gekommen?
Adonis: Wenn ich Ihnen das sage, werden Sie es nicht drucken.
ZEIT: Warum?
Adonis: Weil es zu hart ist.
Adonis: Europa unterstützt das. Es unterstützt Staaten, die nicht einmal eine Verfassung haben, wie Katar und Saudi-Arabien. Es unterstützt diese Regime nicht nur, es verbeugt sich vor ihnen.
ZEIT: Der Westen war zutiefst empört und überrascht, als der IS seinen Feldzug begann.
Adonis: Von wegen, das war gut organisiert. Woher hat der IS seine schweren Waffen? Wer hat Bin Laden erfunden und Al-Kaida, um die Kommunisten in Afghanistan zu schlagen?
ZEIT: Das sollte ich Sie fragen.
Adonis: Amerika unterstützt die religiösen Kriege in den arabischen Ländern seit Langem. Durch den Irakkrieg haben die Amerikaner den sunnitisch-schiitischen Konflikt ins Rollen gebracht, der zu entsetzlichen Massakern geführt hat. Die Vereinigten Staaten sind Mitspieler in diesem Spiel der Stammes- und Religionskriege. 40 Länder haben sich gegen den IS verbündet, dennoch passieren dessen Waffen die Türkei. 40 Länder schaffen es nicht, einen sogenannten islamischen Staat zu schlagen. Und warum nicht? Weil sie gar kein Interesse daran haben. Das ist alles nur Theater.
ZEIT: Aber das Bombardement durch die Amerikaner …
Adonis: … ist Theater. In dem tiefen Konflikt zwischen denen, die den Glauben zur Privatsache erklären wollen, und denen, die einen religiösen Staat bilden wollen, steht der Westen auf der Seite der Religiösen. Man kann die Lage in den arabischen Ländern nicht verstehen, wenn man Palästina ausklammert. Auch Israel ist ein religiöser Staat. Und der religiöse Staat ist im Interesse des Westens. Man will nicht, dass sich diese Welt befreit.
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