Giftgas in Syrien: Warum die Frage, wem es nutzt, in die Irre führt – von Daniel
Bei vielen der in Syrien begangenen Kriegsverbrechen wird über die Täterschaft gestritten. Ein dabei regelmäßig vorgebrachtes Argument zur Verteidigung des Assad-Regimes lautet, es würde dem Regime nicht nützen, diese zu begehen, daher könne es für die Verbrechen nicht verantwortlich sein. Dieses Argument ist in jeder Hinsicht falsch.
In Bezug auf den Giftgasangriff am 4. April 2017 in Khan Sheikhoun wird aktuell häufig argumentiert, das Assad-Regime habe kein rationales Motiv für den Angriff und könne folglich nicht verantwortlich sein. Im Anschluss an dieses Argument wird über eine „False Flag“-Operation diskutiert. „Von einem solchen Giftgaseinsatz können nur die bewaffneten Oppositionsgruppen profitieren“, behauptete etwa Professor Günter Meyer von der Universität Mainz gegenüber der Deutschen Welle.
Immer dieselbe Mär
Diese Argumentation ist nicht neu: Beim Giftgasangriff auf Ost-Ghouta im August 2013, dem über 1.300 Menschen zum Opfer fielen, hieß es in den folgenden Kontroversen häufig, das Regime könne niemals verantwortlich sein, hatte die damaligen US-Regierung den Einsatz von chemischen Waffen ein Jahr zuvor doch als „rote Linie“ bezeichnet. Wenn diese überschritten werde, würden die USA in Syrien eingreifen. Folglich wäre es gegen das Interesse des Regimes, mit einem Chemiewaffeneinsatz eine US-Intervention zu provozieren und der Giftgasmord in Ost-Ghouta eine „False Flag“-Operation anderer Akteure, um eine US-Intervention herbeizuführen.
OPCW-Chemiewaffen-Kontrolleure in Ost-Ghouta nach dem Giftgas-Angriff im August 2013
Auch im Fall des Angriffs auf den UN-Hilfskonvoi im September 2016, der in der Nähe von Aleppo humanitäre Hilfe liefern sollte, wurde argumentiert, es könne nicht im Interesse des Regimes und seiner Verbündeten sein, mit einem solchen Kriegsverbrechen die Weltgemeinschaft gegen sich aufzubringen.
Cui-Bono-Unterstellungen sind keine Indizien!
Die Stichhaltigkeit des Arguments, dass das Regime mangels rationaler Motive nicht verantwortlich sein könne, ist in jeder Hinsicht falsch. Erstens gilt, worauf Lars Stern in diesem Video hinweist: Die Cui-Bono-Frage bringt keine Indizien ans Licht, sie begründet höchstens einen Verdacht, indem sie einer Partei ein Motiv unterstellt. Solche Unterstellungen sagen jedoch häufig weniger über die tatsächliche Täterschaft aus als über das Weltbild der AutorInnen der Unterstellung.
Zweitens lässt sich ein Großteil der Gewaltverbrechen nicht allein auf rationale Motive zurückführen – und das gilt nicht nur für Verbrechen zwischen Privatleuten. Viele schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit lassen sich mit rationalen Motiven alleine nicht erklären – oder beziehungsweise nur dann, wenn im Nachhinein rationale Begründungen konstruiert werden, die (kollektiven) Wahnsinn rationalisieren. Neben dem wohl drastischsten Beispiel des von den Nationalsozialisten begangenen Holocausts ließen sich viele andere anführen: Völkermorde, ethnische Säuberungen und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Verbrechen brauchen kein rationales Motiv – auch nicht die von Staatsorganen
Denn auch wenn Verantwortliche solcher Taten fest im Militär oder anderen Sicherheitsapparaten verdrahtet sind, heißt das noch lange nicht, dass sie rationale Interessen verfolgen: Rache, Rassismus, Paranoia, Korpsgeist, Hass, Ressentiments aller Art – es wäre irrwitzig zu behaupten, dies alles würde im Handeln von Staatsorganen keine Rolle spielen. Wer bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen nach dem „Cui Bono“ fragt, verstrickt sich schnell in kruden und menschenfeindlichen Verschwörungstheorien.
Das heißt aber nicht, dass rationale Motive bei Kriegserbrechen generell keine Rolle spielen: Schließlich ist es militärisch einfacher, risikoärmer und deshalb unter Umständen zynischerweise sogar rational, ein von feindlichen Kämpfern gehaltenes Stadtviertel ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu bombardieren, als unter Inkaufnahme hoher Verluste Haus für Haus mit Bodentruppen vorzugehen.
Die Rationalität von Kriegsverbrechen
Die Kriegsführung des Assad-Regimes und seiner Verbündeten scheint aber nicht nur rücksichtslos „Kollateralschäden“ zu produzieren, sondern es auf zivile Opfer geradezu abgesehen zu haben: Die Angriffe mit ungezielten Fassbomben, mit Streu- und Brandbomben auf zivile Ziele, die gezielte Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen und anderer ziviler Infrastruktur sind Alltag in Syrien. Und ja: Auch oppositionelle Milizen begehen Kriegsverbrechen, wenn sie mit Granaten Wohnviertel beschießen.
Es wäre freilich verfehlt, diese Taten allesamt als „irrational“ zu bezeichnen. Die Bombardierung von ZivilistInnen ist, auch wenn sie als Kriegsverbrechen gilt, bedauerlicherweise eine Standardmethode strategischer Kriegsführung: Etwa wenn die Unterstützung der Bevölkerung für die feindlichen Truppen gebrochen werden soll – oder wenn dissidente Bevölkerungsgruppen vertrieben oder vernichtet werden sollen. Auf letzteres zielt offenbar die Kriegsführung des Regimes – ein Bericht unserer Partnerorganisation PAX spricht von „demographic engineering“.
Auch in der New York Times zeigt Anne Barnard, dass sich ein Giftgasangriff durchaus als ein Element der Strategie Assads interpretieren lässt. Es stimmt schlicht nicht, dass es unmöglich wäre, dem Assad-Regime rationale Motive für den Einsatz chemischer Waffen zu unterstellen: Kaum eine andere Waffe ist geeigneter, Menschen zu zeigen, dass selbst ein Luftschutzkeller keinen Schutz mehr bietet. Wenn es darum geht, in der Zivilbevölkerung wie auch unter den Kämpfern größtmögliche Ohnmachtsgefühle und Agonie zu verbreiten, ist Giftgas wohl ein rationales Mittel der Wahl.
Das heißt aber wohlgemerkt nicht, dass sich aus diesen unterstellten Motiven beweisen ließe, dass das Regime Giftgas einsetzt. Sie begründen allein einen Verdacht, der mit Indizien erhärtet werden muss – und, wenn es um die Täterschaft Assads geht, oft auch erhärtet werden kann.
Ist das Assad-Regime noch eins mit sich selbst?
Das Argument, das Assad-Regime könne mangels rationaler Interessen nicht für Giftgas-Angriffe in Khan Sheikoun oder anderswo verantwortlich sein, setzt zum einen voraus, dass das Regime rein rational agiere. Zum anderen behauptet es, dass es sich beim Assad-Regime um ein einziges rational handelndes Subjekt handle.
Tatsächlich aber zerfällt das Regime und sein Militär- und Sicherheitsapparat in viele verschiedene, teils rivalisierende Gruppen mit teils eigenen Interessen. Der Kriegseintritt Russlands sowie zahlreicher Milizen aus dem Iran, dem Libanon oder Afghanistan haben diese Tendenz noch verstärkt. Daher ist in der Tat fraglich ist, wie viel Kontrolle Präsident Assad noch ausübt über das Konglomerat loyaler Staatsorgane, Warlords und Milizen.
Das gibt einen Vorgeschmack darauf, wie komplex die Strafverfolgung dieser Verbrechen eines Tages werden wird: Selbst wenn die Beweiskette etwa bei der systematischen Folter in syrischen Gefängnissen belastbar ist, wird die internationale Gerichtsbarkeit Mühe haben, einmal individuelle Verantwortlichkeiten zu rekonstruieren. Doch solange die strafrechtliche Verantwortung für die Taten nicht en detail vor Gericht verhandelt werden kann, gilt das Prinzip der politischen Verantwortung. Die Verantwortung für Taten Assad-loyaler Kämpfer trägt, wer das Regime politisch repräsentiert: Präsident Assad.