Syrische zivilgesellschaftliche Initiativen, Hisbollah in Al-Qusayr: Syrischer Konflikt erreicht Libanon – Netzschau 26. Mai – von Barbara
Im Ort Atareb (Provinz Aleppo) wurden kürzlich öffentliche Plätze von Müll befreit – ein Zeichen von Neuanfang – und eine Schule für die Aufnahme von Binnenflüchtlingenhergerichtet. AktivistInnen wurden dort zudem in medizinische (Notfall)Versorgung eingewiesen. In der Stadt Daraa gibt es Anstrengungen von AktivistInnen, die Müllabfuhr, Strom- und Wasserversorgung wieder in Stand zu setzen. Eine der aktiven Gruppen ist diePublic Commission for Civil Defense (PCCD), über ihre Arbeit berichtet aktuell Al-Jazeera. Der „alte“ Staat ist in Daraa meist nur noch durch Beschuss präsent. Die AktivistInnen sehen im zivilen Wiederaufbau die konsequente Fortführung der Revolution, die in Daraas Straßen 2011 ihren Anfang nahm.
Am heutigen Sonntag kam es allerdings zu einem Vorfall: (Vermeintliche) FSA-Soldaten stürmten das Büro der PCCD und verletzten einen Angestellten. Als Folge dieser Attackeverlangt die PCCD eine rasche Aufklärung durch die FSA und ein klares Zeichen, dass solch ein Verhalten weder den Zielen der Revolution noch den Verhaltensregeln der FSA entspricht. Die PCCD hat bis zur Klärung einen Arbeitsstreik erklärt.
Eine Initiative für Frauen in den befreiten Regionen Aleppos haben die Gruppen Nabd und „Syrian Women for Human Development“ gestartet. Es wurden Modelle handgearbeiteter Produkte hergestellt, die später in größeren Mengen in der Türkei verkauft werden sollen und den Frauen Arbeit und Einkommen ermöglichen sollen. In Kobani, direkt an der Grenze zur Türkei, haben lokale AktivistInnen der kurdischen Studentenunion und das lokale humanitäre Komitee eine kleine Zeltstadt für Binnenflüchtlinge aus dem Raum Aleppo errichtet. In der Stadt Ras al-Ayn (kurdisch Serekaniye) werden Kinder nun zum ersten Mal bilingual – Kurdisch und Arabisch – unterrichtet. Unter dem Assad-Regime war nur Arabisch als Unterrichtssprache vorgesehen.
Das UNHCR vermeldete Mitte Mai, dass mehr als 1,5 Millionen Syrer als Flüchtlinge im Ausland registriert sind; weit mehr Syrer verließen seit 2011 das Land. Allein 1 Million Flüchtlinge wurden im Jahr 2013 registriert. Gen Libanon sind die Flüchtlingsströme derzeit 10-mal so stark wie im Vorjahreszeitraum 2012. Das UNHCR rechnet mit einem weiteren Anstieg an Flüchtlingen, v.a. wegen der Eskalation der Gewalt innerhalb Syriens. Das UNHCR erreichte 2013 immerhin 860.000 Binnenflüchtlinge in Syrien. Darunter befinden sich seit kurzem auch Vertriebene aus Banyas, die aufgrund des Massakers flüchteten. Eines bereitet dem UNHCR große Sorgen: der Geldmangel zur Versorgung des wachsenden Flüchtlingsstroms.
dw berichtet über das mangelnde private Spendenaufkommen aus Deutschland. Der Artikel listet die Not der Zivilbevölkerung in Syrien auf – 7 Millionen interne Vertriebene und Millionen, die auf Nahrungshilfe angewiesen sind – und verweist auf die schwierige Lage, Hilfe innerhalb Syriens zu leisten. Trotz der offensichtlichen Not kommen kaum private Spenden: Die Welthungerhilfe z.B. erhielt 12.000 Euro für Syrien – seit Beginn der Krise! Das geringe Spendenaufkommen erklärt sich einerseits mit mangelnder Kenntnis über das Ausmaß der humanitären Katastrophe. Wichtiger scheint: Die Konfliktparteien verschwimmen für deutsche Beobachter und es mangelt an Empathie.
Seit einigen Wochen war eine Offensive der staatlichen Armee und alliierter Milizen erkennbar, die auf die Rückeroberung oder „Absicherung“ strategisch wichtiger Gebiete setzt. Eine dieser „Absicherungen“: Das tagelange Massaker in der Region Banyas, bei dem regimeloyale Milizen hunderte Zivilisten ermordeten – trotz eindeutiger Hinweise unbeobachtet von der Weltöffentlichkeit. In einem Video begründete der vermutlich verantwortliche Milizenführer, man werde den „Verrätern“ bei Banyas den Seeweg blockieren und dabei die Region „reinigen“, wie auch Joshua Landis auf Syria Comment berichtete. Landis stuft die Gefahr ethnischer Säuberungen an Syriens Küste als hoch ein. Eine schwere Hypothek für die syrische Gesellschaft zeichnet sich ab, in die auch immer mehr der Libanon verwickelt wird.
Der wichtigste Grund für die Eskalation ist derzeit der syrisch-libanesische Grenzort Al-Qusayr, der seit einem Jahr von Rebellen gehalten wurde. Qusayr ist sowohl für die syrische Armee als auch die Rebellen von zentraler strategischer Bedeutung; der Ort liegt auch nahe am Stammland der libanesischen Hisbollah-Miliz. Eine Offensive der syrischen Armee um Qusayr wird tatkräftig von Hisbollah-Kräften unterstützt, die NZZ spricht von bis zu 2000 Hisbollah-Kämpfern. Offiziell hat die Hisbollah nach langem Dementieren nun zugegeben, dass eigene Kämpfer in Syrien aktiv sind. Nasrallah erklärte, Hisbollah werde niemals den Fall des Assad-Regimes in Syrien zulassen. Es gehe in Syrien gegen islamistische Extremisten, die eine Gefahr für den Libanon darstellten.
Ein Bild von der Rechtfertigungsrhetorik der Hisbollah und dem wachsenden Märtyrerkult um in Syrien gefallene Kämpfer zeichnet Ulrike Putz bei SPON. Das Engagement der Hisbollah in Syrien lässt im Libanon die Gräben zwischen Pro- und Anti-Assad-Lager eskalieren. Die zahlreichen libanesischen Allianzen und Parteien sind über Syrien zerstritten, auch die Bevölkerung positioniert sich gegensätzlich und oft entlang konfessioneller Linien. In Tripoli (Nordlibanon) kam es erneut tagelang zu Gewalt zwischen Sunniten und Alawiten, es gab mehrere Tote. Ein detailliertes Bild aus Tripoli liefert Julia Gerlach (Berliner Zeitung). Das Misstrauen zwischen Sunniten und Alawiten im Ort sitzt tief, der Syrien-Konflikt hat Tripoli bereits erreicht und überlagert alte Konflikte. Syrische Flüchtlinge geraten in Tripoli erneut zwischen die Fronten. Aufgrund des starken Anstiegs an Flüchtlingen werden sie nicht mehr so herzlich aufgenommen wie einst, von einigen Unterstützern des Assad-Regimes schlägt ihnen Zweifel entgegen: “Es wird so getan, als wären alle Ankömmlinge aus Syrien Flüchtlinge. Aber ehrliche Leute haben doch gar keinen Grund, Syrien zu verlassen.”
Karim el-Gawhary berichtet für die taz aus dem Bekaa-Tal, einer Hochburg der Hisbollah. Klar wird: Im Zweifelsfall hat hier die Hisbollah das Sagen, nicht der schwache libanesische Staat. Es gibt handfeste Befürchtungen, dass der syrische Konflikt auch bald den Libanon wieder in den Bürgerkrieg reißen wird. Syrische Rebellen haben bereits per SMS und Granaten bedeutet, dass der Konflikt auch schnell das Bekaa-Tal erreichen kann. Gawhary schildert aus dem Grenzgebiet ein Panorama: “Von hier oben kann man die Artillerieeinschläge in der Ebene sehen, wie im Kino: schiitische Hisbollah gegen sunnitische al-Nusra. Dazu ziehen zwei israelische Kampfjets in großer Höhe ihre Kreise und hinterlassen weiße Streifen am Himmel.”
Der Syrien-Konflikt hat am Sonntag nun auch Beirut erreicht (NZZ). Zwei Raketen schlugen in ein schiitisches Viertel der Stadt ein und verletzten einige Menschen. Der Einschlag erfolgte vermutlich als Reaktion auf die Rede Nasrallahs zu Syrien.
date : 26/05/2013