Wie weiter in Syrien? – Anton Holberg
Zunächst ein paar Vorbemerkungen:
1. die zunehmend verarmenden „werktätigen Massen“ in Syrien sowie auch die Unterstützer von Demokratie jeder Form und von Menschenrechten haben allen Grund, sich des herrschenden Regimes entledigen zu wollen.
2. Dieses Interesse wird nicht dadurch weniger legitim, dass interne und externe Kräfte, denen es um ganz Anderes zu tun ist, den Kampf für diese legitimen Interessen missbrauchen.
3. Wie stets, so müssen wir auch in Syrien zwischen unseren Wünschen und der Realität, d.h. dem Kräfteverhältnis und dem wahrscheinlichen oder gar realistisch möglichen Ergebnis der Auseinandersetzung unterscheiden.
Durch die Militarisierung des Kampfes zwischen Regime und Opposition haben angesichts des Fehlens organisierter sekulärer und sozialrevolutionärer Kräfte die Kräfte Oberhand gewonnen, die beides nicht sind, d.h. religiös sektiererische Kräfte, deren sozioökonomischer Horizont diesseits der Grenzen des kapitalistischen Systems liegt – konkret sunnitische Fundamentalisten, darunter solche der jihadistischen Spielart (à la Al-Qaida) auf Seiten der Opposition und alawitische (nusairische) auf Seiten des Regimes. Das herrschende Baath-Regime, das sich stets als sekulär geriert hat und das in der Vergangenheit wegen des Minderheitsstatus der Anhänger der alawitischen Sekte, auf die es sich insbesondere stützt, auch sein musste, hat offensichtlich das Angebot sunnitischer Sektierer dankend aufgegriffen und den Konflikt an Ort und Stelle durch entsprechende Maßnahmen (darunter sektiererische Morde seitens der Milizionäre der „Shabiha“) seinerseits in eine sektierische Richtung gelenkt. Der Zweck ist der, die religiösen Minderheiten des Landes in Furcht vor einer drohenden erneuten Unterdrückung durch sunnitisch-islamistische Kräfte hinter sich zu vereinen. Das gilt insbesondere für die Alawiten, die bis zur Machtübernahme baathistischer Militärs in den 60er Jahren am untersten Ende der syrischen Gesellschaft platziert waren, sowohl ökonomisch als auch, weil sie von der sunnitischen Mehrheit im Land als „Häretiker“ betrachtet wurden und ungeachtet der entgegengesetzten Bemühungen des Regimes seit Ausbruch der aktuellen Revolte verstärkt von sunnitisch-fundamentalistischen Predigern in Syrien aber auch auf der arabischen Halbinsel als solche wieder ins Visier genommen werden.
Der Bedeutungszuwachs sunnitischer-sektiererischer Kräfte innerhalb der bewaffneten Opposition bedeutet nicht, dass deren Anschauungen in der syrischen Gesellschaft, auch der oppositionellen, nun mehrheitsfähig wären. Der bewaffnete Kampf jedoch marginalisiert in der Praxis unbewaffnete Kräfte und wertet notwendigerweise die Rolle derer auf, die a. über die beste Bewaffnung und b. über die größte Kampfmoral und militärische Erfahrung verfügen. Die Bewaffnung der syrischen Opposition stammt zum einen aus Beständen der syrischen Armee, auf die Deserteuren Zugriff hatten oder die bei Kämpfen erbeutet wurden, und zum anderen zunehmend aus Lieferungen sympathisierender Staaten und Kräfte, d.h. in erster Linie der Türkei und der wahabitischen Golfmonarchien. Dass diese keine Kräfte mit irgendwie gearteter fortschrittlicher Perspektive unterstützen, liegt auf der Hand. Was nun Kampfmoral und militärische Praxis betrifft, so ist es theoretisch offensichtlich und inzwischen mannigfach belegt, dass die Deserteure der syrischen Armee, einer Armee, die seit Jahrzehnten keinen Krieg mehr geführt hat, gegenüber den vergleichsweise kleinen Einheiten jihadistischer Kämpfer mit ihren Erfahrungen in Afghanistan, Tschetschenien, Irak und zuletzt in Libyen ins Hintertreffen geraten. So ist es nicht verwunderlich, dass zum einen der Diskurs auch seitens der ursprünglich aus Deserteuren rekrutierten FSA zunehmend islamistisch, d.h. hier auch sunnitisch-sektierisch, geworden ist, und dass zum anderen jihadistische Kräfte (großteils aus Nicht-Syriern bestehend) zunehmend auch von FSA-Einheiten herangezogen werden, um militärische Erfolge gegen die Armee zu erzielen.
Unter diesen Umständen gibt es m.E. drei Perspektiven , nachdem die einer Verhandlungslösung auf der Basis irgendwelcher UN-Pläne zwar als wünschenswert betrachtet werden könnte aber als völlig irreal angesehen muss, weil zumindest auf Seiten der relevanten Opposition innerhalb Syriens wie auch im internationalen Bereich niemand daran interessiert ist: 1. das Regime hält sich militärisch und zerschlägt die Opposition; 2. das Regime hält sich zwar, kann aber auch die (militärische) Opposition nicht zerschlagen, und der Bürgerkrieg dauert gegebenenfalls noch jahrelang an; 3. es kommt zu einem (Militär-)Putsch aus den Reihen des Regimes. Mit dieser möglicherweise nicht nur von den imperialistischen Mächten, sondern auch von deren regionalen Verbündeten wie Israel, der Türkei und den Golfmonarchien bevorzugten „Lösung“ wären eventuell einige kosmetische Veränderungen im Bereich der formalen Demokratie verbunden, die einen Teil der Opposition für eine gewisse Zeit neutralisieren könnten. Bis heute deutet allerdings nichts darauf hin, dass sich relevante Teile der Sicherheitsstruktur von Assad abwenden. 4. die Opposition stürzt das Regime. Im letzten Fall ist es völlig irrealistisch davon auszugehen, dass die Kräfte, die zentral für eine militärische Niederlage des Regimes waren, bereit sein könnten, auf die Durchsetzung ihrer eigenen politischen, religiösen und sozio-ökonomischen Agenda zu verzichten, nur weil die Mehrheit der syrischen Bevölkerung vielleicht andere Vorstellungen hat. Da die Agenda dieser Kräfte insbesondere keine Perspektive für die wirtschaftliche Verbesserung der Lage der sozialen Hauptkraft der heutigen Revolte (Landbevölkerung und marginalisierte ehemalige Landbevölkerung in den Vororten der großen Städte) bietet, ist davon auszugehen, dass sich nach einem eventuellen Sturz des Assad-Regimes schon bald neue Unzufriedenheit mit den neuen Herrschern einstellen wird. Möglicherweise kommt es dann zu einem Schulterschluss zwischen diesen weiterhin verarmenden (sunnitischen) Massen mit dem Gros der Basis des aktuellen Regimes aus den religiösen Minderheiten (Alawiten, Christen, Zwölfer-Schiiten, Ismailiten, Drusen). Auch die Position der (im übrigen sunnitischen) Kurden, die aktuell gewissermaßen eine dritte Kraft darstellen, weil weder ihre sozialen noch ihre nationalen Interessen vom Regime und der Mehrzahl der Opposition berücksichtigt werden, wird dann in einer noch unbekannten Weise relevant werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass die möglichen Sieger des jetzigen Kampfes – insbesondere nicht – wenn es sich bei ihnen um Oppositionskräfte handelt, auf eine solche Situation anders reagieren als das Assad-Regime heute. Ein Erfolg einer solchen neuen Koalition hängt vom Entstehen einer sekulären (d.h. nicht etwa „atheistischen“!) sozialrevolutionären Kraft ab. Leider deutet nichts darauf hin, dass damit in einem überschaubaren Zeitraum zu rechnen wäre. Man sollte nicht außer Acht lassen, dass deren Schwäche im internationalen Rahmen auch auf nationaler Ebene eine schwere Belastung darstellt.
Was im übrigen die Rolle des Imperialismus (USA, EU) betrifft, so ist diese schon jetzt überaus begrenzt. Das ist nicht so, weil diese Kräfte an der Zukunft Syriens und damit der ganzen Region nicht überaus interessiert wären. Vielmehr sind sie mit dem Problem konfrontiert, dass sie weder in Syrien noch sonst wo in der Region über brauchbare Ansprechpartner verfügen. Kräfte wie der von ihnen hofierte und aufgebaute Syrische Nationalrat haben sich im Zuge der Revolte zunehmend als Lachnummer, ohne wirklichen Einfluss in Syrien selbst, herausgestellt. Ein direktes militärisches Eingreifen wie etwa in Libyen (wo die Resultate auch noch keineswegs klar sind) bietet sich in Syrien offensichtlich nicht an. Die „Verbündeten“ – die AKP-Regierung in der Türkei und die Golfmonarchien, und wohl auch Israel – verfolgen eigene Interessen, die sich nur taktisch mit denen ihrer imperialistischen Schutzherrn decken.